Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 230
Text
Personen und all die vielen kleinen Regisseurkünste, durch die man den
Zuschauer in Illusion hält, all diese Dinge sind nach wie vor aufs Pein-
lichste beachtet und mit raffinirtem Aufwand technischer Mittel vor-
gebracht. Auf diese rein artistische Meisterschaft will Ibsen auch da
nicht Verzicht leisten, wo er ihrer eigentlich nicht mehr bedarf. Er
will niemals vergessen machen und auch vor sich selber nicht ver-
gessen, dass er »vom Handwerk« ist, und wie viel er uns auch mag
andeuten und zeigen wollen hinter den Dingen — die Dinge selbst
setzt er doch stets klar und scharf in voller Tagesbeleuchtung vor
uns hin, und dann erst mag in Gottesnamen der Geistertanz beginnen
um die Dinge herum, und die Dinge hinten nach alle miteinander über
den Haufen werfen.
Die Personen in Ibsen’s neuestem Drama traten uns entgegen
als gute tüchtige Menschen, die vielleicht etwas schrullenhaft sind und
nicht immer freundlich, die aber doch alle von wackeren redlichen
Absichten erfüllt sind und der Menschheit dienen wollen auf ihre
Art. Sie gehören der guten Gesellschaft an und haben jedenfalls nicht
die Tendenz, sich principiell wider die herrschenden Satzungen auf-
zulehnen. Trotzdem thun sie im Verborgenen und, wenn es sein
muss, auch offenkundig allerhand, das wider diese Satzungen verstösst,
und Einer ist darüber zu Fall gekommen. Das war vor vielen Jahren
schon, und damals wurde der Bankdirector Borkman gefänglich ein-
gezogen, weil er sich an den ihm anvertrauten Depots vergriffen hatte.
Jetzt ist er schon acht Jahre aus dem Gefängniss heraus, und er steht
vor uns als ein würdiger alter Herr in schwarzem Rock und mit
weisser Cravatte. Freilich, er lebt ein völlig einsames Leben, aber er
hat in seinem Geist noch keineswegs mit der Menschheit da draussen
abgeschlossen. Er glaubt fest daran, dass diejenigen, die ihn früher
gebraucht haben, ihn auch jetzt noch brauchen und dass sie eines
Tages zu ihm kommen werden, um ihn aufs Neue an die Spitze
der Bank zu berufen, gleichwie einen entlassenen Wallenstein oder ge-
stürzten Napoleon an die Spitze des nur von ihm zu befehligenden
Heeres.
Das ist natürlich ein Wahn. Es ist eine Construction von Leben,
die nur ihm gehört. In Wirklichkeit denkt Niemand daran, ihn zurück-
zuberufen. Er selbst aber, Borkman, könnte ohne diesen Wahn nicht
leben. Es ist das Gespenst in ihm, das diesen Wahn unterhält, sein
unbezwinglicher, unauslöschlicher Machtwille. Der ist sein Lebenselement,
das alles Uebrige sich unterwerfen muss, das Alles niedertritt, aber auch
Alles zu ertragen weiss, so lange die Illusion einer unumschränkten
Machtfülle noch lebendig bleibt. Bei Borkman wächst sich das Gespenst
zum Dämon aus, der der ganzen Persönlichkeit etwas Fascinirendes,
Berückendes gibt. Und dieser Dämon führte den Menschen empor zur
schwindelnden Höhe, um ihn dann kaltherzig herunterstürzen zu lassen.
Aber selbst im Sturze machte er den Menschen noch gewaltig, und in
der Erniedrigung machte er ihn hoheitsvoll.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 230, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-06_n0230.html)