Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 231
Text
So ist Borkman eine Herrennatur und eine Verbrechernatur. Aber
so, wie er ist, ist er durch und durch vor sich selber (und dem-
nach auch vor uns) gerechtfertigt. Als Bergmannssohn empfing er die
Suggestion der Machtbegier, schon da er als Knabe »des Goldes
schlummernde Geister« sich umflüstern hörte, da er den Ton des ge-
fesselten Erzes vernahm, wie es vor Freude und Sehnsucht sang. »Es
will hinauf ans Tageslicht und den Menschen dienen«: das erkannte
er bei sich. Und er beschloss, diesen Menschheitsdienst des Goldes zur
Wirklichkeit zu machen, alles Gold, alle Schätze in seiner Hand zu ver-
sammeln, um damit unter Menschen Glück zu gründen. Also erging an
ihn der Wille seines Dämons, dawider es keine Auflehnung noch Ab-
irrung gab.
Aber kann der Träger eines solchen Dämons sich ausleben in
uns, einer überall verclausulirten Welt, die auf wechselseitige Abhängig-
keiten gegründet ist? Musste dieser Herrenmensch nicht zum Ver-
brecher, und musste dieser Verbrecher nicht geknechtet werden? Trägt
nicht jeder Heros mit Notwendigkeit seine Tragödie in sich? Auch
Borkman konnte seinem Schicksal nicht entgehen.
Er wird zum Verbrecher in doppelter Weise. Das Geringere ist,
dass er sich wider das Gesetz verging. Denn das that er nicht, um
Andere zu schädigen. Hätte man ihn gewähren, hätte man ihn seine
Operationen zu Ende führen lassen, es hätte wohl Niemand um ihn
leiden müssen, Alle hätte er vielleicht reicher und mächtiger gemacht.
Aber das kleinere Vergehen war nur eine Folge des grösseren, eines
Verbrechens wider die Natur, wider das Schicksal. Er war zum Mörder
geworden am Liebesleben eines Weibes, und auch sein eigenes Liebes-
leben hatte er damit gemordet. Doch auch da erfüllte er nur den Willen
seines Dämons. Er opferte die Begierde nach dem Weib der höheren
Begierde nach der Macht. Er überliess das Weib einem anderen, der
ihm dafür die Macht zuschlug. Aber das Weib schlug den Andern aus,
widersetzte sich all dessen Bewerbungen. Da ergrimmte der Andre,
und weil er den ehemaligen Liebhaber an seinem Missgeschick schuldig
wähnte, überlieferte er diesen, um dessen Gesetzesverletzungen er wusste,
der irdischen Gerechtigkeit.
Das Weib, das Borkman geliebt hatte, war Ella Rentheim, und
deren Zwillingsschwester, die stolze Gunhild, führte er statt ihrer zum
Altar. Zwei neue Menschen und zwei neue Gespenster treten mit den
feindlichen Zwillingsschwestern auf den Schauplatz.
Es ist dieser beiden Weiber Schicksal, dass sie überall im Leben
den Platz sich müssen streitig machen. Die Eine sucht unablässig der
Anderen die Lebenslust abzuschneiden. Das ist so vom Urbeginn in
sie hineingelegt. Wo die Eine ist, da ist die Andere zu viel.
Schon im Charakter sind sie vollendete Gegensätze. Ella ist das
Weib, wie jeder Mann es lieben möchte, von dem es eine Wonne sein
müsste, Kinder zu besitzen. Aber so viel sie begehrt wurde, was Liebe
heisst, hat sie nie erfahren, und ein eigenes Kind hat sie nie auf ihrem
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 231, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-06_n0231.html)