Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 232

Gespenster im Menschen (Servaes, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 232

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232 SERVAES.

Schosse gewiegt. Gunhild dagegen ist eine herrische und spröde Natur,
selbstsüchtig und ehrgeizig. Vor solchen Weibern pflegt der Mann einen
weiten Bogen zu machen. Aber gerade sie erobert sich den John Gabriel
Borkman und gebärt ihm auch ein Kind, Erhard, ihren Sohn.

Gunhild liebt in Borkman nur sich selbst und ihre machtvolle
Stellung. Ella aber liebte den Menschen. Als daher Borkman ins Ge-
fängniss muss, da empfindet Gunhild die Schmach und Ella das Un-
glück. Für Gunhild ist Borkman seitdem todt, und in ihrem Sohne
Erhard sieht sie bloss den, der den geschändeten Namen dereinst zu
neuem Glanze erheben soll. Ella dagegen trauert um den Gefallenen,
und seinen Sohn nimmt sie zu sich, weil sie den Vater in ihm liebt,
und weil sie ihm das menschlich-warme Glück bereiten möchte, dessen
Jener verlustig ging.

So entbrennt denn um Erhard aufs Neue der Kampf der Zwillings-
schwestern. Jede will ihn für sich besitzen; denn jede glaubt, Anspruch
auf ihn zu haben, und jede verfolgt mit ihm ihre besonderen Zwecke.
Bei der Einen ist es das natürliche, bei der Andren das unterdrückte,
das betrogene Muttergefühl, das sich an Erhart anklammert als an
das kostbarste Besitzthum.

Aber es ist der Kampf zweier Gespenster — um ein Gespenst.

Jede der beiden Frauen folgt ihrem gebieterischen, uncontrolir-
baren Lebensimpuls. Jede sieht in Erhard, was ihre Wünsche ihr zu-
flüstern. Aber Erhard ist weder das eine, noch das andere, noch auch
das, als was der Vater ihn möchte, als seinen Gehilfen für einen zweiten
Erobererzug ins Leben. So hat keiner von diesen Dreien Macht über
Jung-Erhards Lebensschicksal.

Aber auch Erhard selbst hat nicht diese Macht. Der Sprosse
zweier Herrennaturen, die sich freilich kalt gegenüberstanden, ist selber
eine Weibernatur, die überall Anlehnung sucht, am meisten aber dort,
nicht wo ihm der Ruhm und die Ehre, sondern wo ihm Genuss und
Sinnenfreude winken. Man hat ihm eine Lebensaufgabe, eine »Mission«
gar aufbürden wollen. Er selbst aber will »leben, leben, leben«. So
spricht aus ihm sein gespenstischer Urtrieb.

Und so ist es denn eine Andere, die Macht über ihn gewinnt,
und der er bedingungslos folgt. Eine blühende, sprühende Abenteurerin,
die Verkörperung schwillender, quillender Lebenslust. Und diese ent-
führt ihn dann, eine spukhafte, übermächtige Hypnotiseuse. Auf einem
Schlitten fährt er mit ihr davon, mitten in der Nacht. Den Andren
entwich damit Jugend und Traum.

Und trauernd stehen sie und blicken hinter ihnen drein. In John
Gabriel aber erwacht der alte Königs- und Eroberergeist. Gerade jetzt,
wo er allein ist und ganz vereinsamt, treibt ihn sein Dämon hinaus,
mitten in den Winter und hohen Schnee, mit trügerischer Fata Morgana
winkender Machtfülle. Aber der alte Mann, der nur die Gefängniss- und
Stubenluft noch gewohnt war, draussen, wo der scharfe Wind der
Wirklichkeit weht, da versagt ihm jetzt die Kraft seiner Lungen. Eine

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 232, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-06_n0232.html)