Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 233

Gespenster im Menschen (Servaes, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 233

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GESPENSTER IM MENSCHEN. 233

eisige Erzhand packt ihn ums Herz, und unter ihrem Griff bricht er
zusammen. Das war zum letztenmal sein Dämon. Da hat er ihn ge-
tödtet.

Die beiden Zwillingsschwestern, die jetzt nichts mehr haben, um
das sie den Daseinsraum sich streitig machen können, sie reichen sich
jetzt schweigend die Hände — »zwei Schatten über einem Todten«.

— — Die Gespensterschlacht ist aus Hier wurden nur die
allgemeinsten Züge reproducirt. Es liesse sich noch weit intimer und
vielfältiger den Gespenstern der Puls fühlen, noch ein höchst inter-
essantes Nebenspiel von Parallelen und Contrasten sich aufdecken, das
Borkman’s Jugendfreund Foldal und dessen Tochter Frida betrifft. Es
sei indess genug. Jeder, der das Stück aufmerksam liest, wird sich jetzt
das Nöthige selber sagen können.

Ein Allgemeines nur sei noch bemerkt.

Das betrifft die Umwandlung der Gespenster im Menschen, wie
sie sich vollzogen hat seit den alten mythischen Zeiten bis in unsere
verspiessbürgerlichte Gegenwart. Von dieser Gegenwart vermag Ibsen
sich nicht mehr völlig freizumachen, und so bleibt denn der merk-
würdige Charakterzug, dass seine Gespenster diesen Hauch von Spiess-
bürgerlichkeit haben. Sie befinden sich, darwinistisch geredet, im Zu-
stande der Domestikation. Sie sind brave Hausthiere geworden, die
Pfote reichen und possierlich zu niesen wissen. Und sie verhalten sich
meist zurückgezogen in der Ofenecke, wo sie bald behaglich schnurren,
bald missvergnügt knurren. Nur ganz selten flackert etwas in ihnen
hoch von ihrer alten, prachtvollen Wildheit — eben dann, wann aus
dem Gespenste der Dämon hervorkriecht, wann aus dem kleinlichen
Getriebe der Eifersüchteleien und der Ränke ein grosser, gebieterischer
Wille zur Macht empor bricht, wie zuweilen beim »John Gabriel«, dieser
geknickten Königsbestie.

Aber der Machtwille ist es gerade, dessen Tragödie wir erleben.
Die Mikrobenzucht der Spiessbürgerwelt zernagt ihm Sehnen und Lungen.
Das Machtgespenst des Mannes ringt vergeblich mit dem Moralitäts-
gespenst des Weibes. Jene Zeiten sind vorüber, wo man lachend Menschen-
glück niedertreten konnte, um eines erhabenen, nie von der Menge be-
griffenen Gedankens willen. Fort und fort umlauert die Menge den Grossen,
verlangt auf Schritt und Tritt von ihm, dass er Rechenschaft ablege,
dass er für sein kleinstes Thun und Lassen sich verantworte, nicht nach
den Gesetzen des Grossen, sondern nach denen der Menge.

Denn woraus setzt sich die Menge zusammen?

Auch wieder aus Menschen, aus neuen Lebendigen, die alle ihr
eigenes Dasein für ebenso wichtig halten wie jedes andere, die sich
gleichfalls nach ihren eingeborenen Gesetzen entwickeln und ihre indi-
viduelle Glückseligkeit erlangen wollen. Und gerade hier ist es am
meisten, wo das Weib dem Mann entgegentritt, wo eine Ella Rentheim
sich unter den Sichelwagen des königlich einherdonnernden Siegers
wirft, wohl wissend, dass der Sieger über diese Leiche nie wird hinweg
können.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 233, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-06_n0233.html)