Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 236

Die Theatercensur (Stiglitz, Dr. Maximilian)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 236

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236 STIGLITZ.

errungen worden, den Oesterreicher aber hindert die gemüthliche, leicht-
blütige Natur, es täglich neu zu erwerben, um es täglich neu zu be-
sitzen. So lässt er sich nach und nach aus seinen wichtigsten öffent-
lichen Rechten depossediren, und erst lange nach ihrem factischen
Verlust erinnert er sich daran, dass er sie einst gehabt. In unsere
heutige Zeit des papiernen Rechtes auf freie Meinungsäusserung ragt
die Theatercensur wie ein erratischer Block aus der Vergangenheit des
absolutistischen Regimes. Sie ist ebenso ein Ausfluss des Absolutismus,
wie die Machtbefugniss des Staatsanwaltes, ein Buch, eine Schrift oder
eine Zeitung zu confisciren, oder wie das »Recht« der Regierung, zu
jeder Versammlung, mag sie welchen Zweck oder welche Tagesordnung
immer haben, einen Vertreter zu entsenden, der den Redner willkür-
lich unterbrechen und die Versammlung willkürlich auflösen darf. Der
Unterschied liegt nur in der Wirkung. Wenn der Regierungsvertreter
in einer Versammlung den Redner unterbricht, so hindert er ihn
dadurch, ein ihm selbst noch unbekanntes »Verbrechen« zu begehen;
wenn aber die Regierungsgewalt ein Buch oder eine Zeitung confiscirt,
so hindert sie die Verbreitung eines bereits begangenen »Ver-
brechens«. Bei einer dramatischen Dichtung jedoch verlegt sie sich
gewöhnlich aufs »Handeln«. Ist der dramatische Dichter mit der
Streichung seiner geschriebenen »Verbrechen« einverstanden, so mag
das Stück gespielt werden. Einen gewaltigen, aufreibenden Kampf muss
der Dichter um jedes Werk mit der Regierungsgewalt bestehen, einen
ungleichen Kampf, der meist mit seiner Niederlage endet. Es ist hier
ganz wie bei den Confiscationen, wo auch der Staatsanwalt trotz aller
Einspruchsrechte fast immer stolzer Sieger bleibt.

Des Dichters Schicksal ist in solchen Fällen ein wahrhaft tragi-
sches. Wie in den guten alten Zeiten der Leibeigenschaft und Grund-
hörigkeit in manchen Gegenden der Brauch bestand, dass der Vater
seiner reinen Tochter jungfräulichen Leib dem Grundherrn hingeben
musste, ehe sie ihrem Gatten zu eigen ward, so muss in Oesterreich
heute der dramatische Dichter das Strafgericht des jus primae noctis
über das keusche Kind seines Herzens ergehen lassen, ehe es das Volk
empfängt, dem es gehört.

Aber ist auch die Dichtung einmal in dieser Weise geaicht und
gewogen, so ist ihr damit noch immer nicht freie Bahn gegeben zum
Siegeszuge über alle Schaubühnen Oesterreichs. Wo es sich um Prä-
ventivmassregeln zum Schütze allmäliger Verblödung der Völker
handelt, dort stossen sich bei uns die absolutistischen Gewalten hart
im Raume, denn sie gehen alle auf die Jagd nach dem freien Ge-
danken und wachen eifersüchtig darauf, dass nicht ein Jäger etwa aus
seinem Revier in ein anderes, fremdes auf die Ideenpürsche schreite.
Und so kommt es, dass eine Theaterdichtung so viele Censurirungen
passiren muss, als Oesterreich Provinzen zählt, und dass die Wiener
noch recht lange Versammlungen abhalten und Resolutionen verfassen
können, bevor der »Jugend«, die in Czemowitz gestattet ist, sich die
schweren Pforten eines Wiener Theaters einst eröffnen dürfen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 236, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-06_n0236.html)