Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 237

Die Theatercensur (Stiglitz, Dr. Maximilian)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 237

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DIE THEATERCENSUR. 237

Ja, nicht einmal die bereits erfolgte Bewilligung der Aufführung
schützt die Dichtung vor dem Arm der Censur. Die Censurbehörde
kann auch das bereits freigegebene Stück confisciren und dessen Auf-
führung untersagen, genau wie der Staatsanwalt einen Artikel heute
ohneweiteres passiren lässt, um ihn morgen zu inhibiren, sobald es
ihm gefällt.

Der österreichische Absolutismus, welcher seine grösste Stütze in
einer schrankenlosen Bureaukratie besitzt, hat eben trotz aller freiheit-
lichen Gesetzgebung in der ersten Zeit des constitutionellen Lebens
noch niemals aus seiner Haut hinaus können. War ihm schon die phy-
sische Freizügigkeit und die persönliche Bewegungsfreiheit ein Greuel,
weil er mit richtigem Blicke in der Beweglichkeit der Volksmassen bei
besseren Verkehrsverhältnissen gewaltige ökonomische und politische
Umwälzungen voraussah, so musste er sich umsomehr mit Händen und
Füssen gegen die geistige Bewegungsfreiheit und gegen die Freizügig-
keit des Gedankens sträuben. Der Absolutismus musste auf Mittel
sinnen, um die strömende Raschheit des geschriebenen oder ge-
sprochenen Wortes nach Möglichkeit zu hemmen. Es musste also ein
Werkzeug gefunden werden, das äusserlich dem Rechte, sich in Wort
und Schrift frei auszuleben, vollkommen Rechnung trug und dennoch
die gefürchtete Wirkung des freien Wortes und der freien Schrift ver-
eitelte — und dieses Präservativ war das objective Verfahren.

Mit Hilfe dieses objectiven Verfahrens hat die absolutistische
Staatsgewalt die gesetzlich decretirte Pressfreiheit erschlagen, sie con-
fiscirt Bücher und Journale nach Herzenslust. Mit diesem Mittel hat
sie die Redefreiheit vernichtet; sie schickt ihre Vertreter in Versamm-
lungen und verbietet von vorneherein, ihr nicht Genehmes zu sagen,
statt dass sie erst das schon gesprochene Verbrechen verfolgte. Und
mit Hilfe dieses Receptes benimmt sie dem Dichter die Möglichkeit,
durch des Schauspielers Mund seine Ideen dem lauschenden Volke zu
künden. Ein einziges Gebiet ist dem segensreichen Wirken des objectiven
Verfahrens bis heute noch unzugänglich geblieben: die Musik.

Nach dieser Sachlage ist der Kampf gegen die Theatercensur
allein ein unzulängliches Beginnen. Fällt der Mantel, so muss der
Herzog nach, und die Theatercensur wird deshalb auch nur mit der
Beseitigung der absolutistischen Beschränkung der freien Rede und der
freien Schrift fallen können. Die Wirkung kann nur beseitigt werden
mit der Entfernung der Ursache, und die Ursache der Bedrückung,
die sich auf jedem geistigen Gebiete breit macht, liegt darin, dass wir
trotz aller constitutionellen Floskeln noch tief im finstersten Polizeistaat
stecken. So lange die mächtige Hand des Absolutismus bei constitu-
tionellen Allüren nicht gefesselt ist, kann von einer Aenderung der
Censurverhältnisse allein — losgelöst von den Fragen der ander-
weitigen geistigen Fesselung — nicht die Rede sein. Und deshalb mag
man den Kampf gegen die Theatercensur mit Sympathie begleiten,
eine selbstständige Lösung dieser Frage darf man wohl kaum erhoffen.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 6, S. 237, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-06_n0237.html)