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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 242

Text

242 LARSEN.

Menschen keine Ahnung haben. Es wäre erstaunlich, was
die Menschen Alles, selbst ihren allernächsten Angehörigen,
verborgen hielten.

»Ja, deren hatte er ja keine mehr. Er hatte überhaupt
niemand, ausser mir. Wir Beide blieben in Kopenhagen; ich
bin auch unverheiratet, und wir waren alle Beide Schul-
männer —«

Der junge Arzt sah den Schulmann einen Augenblick an.

»Où est la femme?« sagte er dann mit Weltmiene.

»O, keine Spur von cherchez la femme — Nein, Herr
Doctor,« sagte er, »vor zehn Jahren — da gab es une femme.
Und er war über dies und jenes unglücklich. Damals hätte
es mich nicht gewundert, wenn man gekommen wäre und
gesagt hätte, er läge da mit einer Kugel durch den Kopf.
— Aber nun war er ja zur Ruhe gekommen.«

Der Arzt erhob sich — er musste doch immer an seiner
Skepsis festhalten — übrigens fing das Ganze an, ihm
allmälig langweilig zu werden. Aber der Schulmeister wollte
nicht aufhören:

»Er gehörte zu den Menschen, die sich gern ver-
heiraten wollen. Aber er hatte allzuviele Bedenken. Und
dann hatte er wissenschaftliche Pläne. Er wollte sich an der
Universität habilitiren. Das mochte er nicht gern aufgeben.
Dazu wurde er nun doch genöthigt. Wir werden Alle dazu
genöthigt.«

Der Philologe ging im Zimmer schlendernd auf und ab.

»Und dann kam er ja auch zur Ruhe. — Er wurde
Lehrer. Und er war sehr beliebt. Er that nicht mehr so
wichtig wie in seiner Jugend — Sie wissen, so ein gewisses
überlegenes Wesen gegenüber Andern betreffs seiner Fähig-
keiten. Ach nein, das hatte er gar nicht mehr — er war
sehr beliebt. Und er hatte es ja so gut als Junggeselle.
Von Nahrungssorgen kann ja keine Rede sein. Wir meinten
Alle, er legte etwas auf die Seite. Und es wird sich auch
noch zeigen, dass er es that.«

Es hatte zu dämmern begonnen. Nun wollte der junge
Arzt wirklich ein wenig in der Dämmerung durch die
Strassen bummeln. Er nahm seinen Hut und Stock: es wäre

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 242, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-07_n0242.html)