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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 243

Text

EIN OCTOBERTAG. 243

wohl am besten, sie gingen, sie könnten hier ja doch nichts
mehr machen.

»Nein, leider,« sagte der Schulmeister und sah sich
noch einmal um, »leider —«

»Es traf sich nun auch verdammt unglücklich,« fügte
er hinzu, während sie die Treppen hinunterstiegen, »dass er
den Revolver kaufen musste, als hier in diesem Stadttheil
die vielen Einbrüche stattfanden. Es ist eigentlich unrichtig,
dass die Leute so ohneweiters hingehen können und der-
gleichen kaufen.«

»Na — wollen sie das Leben los sein, so finden sie
schon ein Mittel dazu,« meinte der Arzt draussen vor der
Thüre. — »Adieu!«

»Ja, natürlich, wenn sie wollen —«

»Ja, dass dem Selbstmord der Wille dazu zugrunde
gelegen hat, darüber kann man doch nicht im Zweifel sein.
Adieu, Herr Oberlehrer!«

»Ja, das wohl,« sagte der Andere. »Aber trotzdem —«

Dann wurde der Arzt ihn endlich los.

In seinem Schlafzimmer lag der Todte.

Die Fenster waren geöffnet, aber die Wirthin hatte in
ihrer Verwirrung vergessen, das Rouleau herabzulassen. Es
hing, wie er es selbst am Morgen aufgezogen hatte — ein
wenig schief. Sie hatte ein weisses Laken über ihn ge-
breitet, welches ihn ganz bedeckte — in dem Consolspiegel
gleich davor schimmerte es im letzten brechenden Licht.
Der Spiegel allein hatte Alles gesehen, was dort am Morgen
vorging.

Er erwachte zu gewöhnlicher Zeit und streckte die Hand
nach der Zeitung aus, durchlief sie und legte sie wieder auf
den kleinen Tisch, von wo die Wirthin jeden Tag, Schlag
neun, sie an sich nahm, wenn er gegangen war.

Dann kleidete er sich langsam an.

Er zog das Rouleau auf.

Es regnete — wie gestern — wie vorgestern — ein
Octoberregen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 243, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-07_n0243.html)