Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 246

Herbstklage (Baudelaire, Charles)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 246

Text

HERBSTKLAGE.

Bald schlägt das Dunkel über uns zusammen,
Leb’ wohl, du allzu kurzer Sommertraum!
Ich höre trockne Blätter düster raschelnd
Zu Boden sinken vom entlaubten Baum.

Der Winter will in mir den Einzug halten:
Der Hass, die Angst und aufgezwungne Pflicht —
Ja, der Polarwelt blutigrother Sonne
Gleicht meines Herzens wärmeloses Licht.

Mit Schaudern lausche ich der Blätter Rauschen,
Des Henkers Beil klingt nicht so fürchterlich
Mein Geist gleicht, ach, dem wankenden Palaste,
Der zögernd nur der Macht des Sturmbocks wich.

Es stöhnt in mir dies monoton Getöne,
Wie Särgezimmern in des Hauses Flur —
Für wen? — Dem Sommer gestern, heut’ dem Herbste!
Ein Abschiednehmen geht durch die Natur

Paris. Charles Baudelaire.

Deutsch von Alfred Neumann.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 7, S. 246, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-07_n0246.html)