Text
Von Oskar Wilde (London).
Der schönen Dinge Schöpfer ist der Künstler.
Sich selbst zu offenbaren und den Künstler zu verbergen,
ist Zweck der Kunst.
Kritiker ist der, der seinen Eindruck vom Schönen in
neuer Form oder neuer Technik wiedergeben kann.
Die höchste wie die niedrigste Kritik ist eine Art
Selbstbekenntnis. Die Leute, die in der Kunst niedrige
Gedanken finden, sind verderbt und wirken unerfreulich. Die
Leute, die in der Kunst hohe, schöne Gedanken finden, sind
gebildet. Für sie gibt es Hoffnung. — Die Auserlesenen sind
die, welchen die Kunst eitel Schönheit ist.
Bücher sind weder moralisch noch unmoralisch; sie sind
gut geschrieben oder schlecht geschrieben. Ein Drittes gibt
es nicht.
Das Missfallen des XIX. Jahrhunderts am Realismus
gleicht der Wuth Caliban’s, der sein eigenes Gesicht im
Spiegel erblickt.
Das Missfallen des XIX. Jahrhunderts an der Romantik
gleicht dem Caliban, der wüthet, weil er sich nicht im
Spiegel sieht.
Das moralische Leben eines Menschen ist ein Theil des
künstlerisch Darzustellenden; aber die Moral der Kunst
besteht in der vollkommenen Beherrschung eines unvoll-
kommenen Mittels.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 335, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-09_n0335.html)