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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 336

Text

336 WILDE.

Kein Künstler will etwas beweisen; nur Thatsachen
können bewiesen werden.

Kein Künstler hat einen Hang zur Sittlichkeit. Die Sucht
zu moralisiren ist eine unverzeihliche Manierirtheit des
Styls.

Kein Künstler ist krankhaft; es gibt nichts, was ein
Künstler nicht sagen dürfte.

Gedanke und Sprache sind die Instrumente des Künstlers.
Tugenden und Laster sind seine Materialien.

Vom formellen Standpunkt ist die Musik das Urbild aller
Künste; vom Standpunkt des Gefühls ist es die Schauspielkunst.

Jede Kunst ist zugleich Oberfläche und Symbol.

Diejenigen, die unter die Oberfläche gehen, thu’n es auf
eigene Gefahr.

Diejenigen, die das Symbol lösen, thun es auf eigene
Gefahr.

Der Beschauer, nicht das Leben, wird von der Kunst
wiedergespiegelt.

Meinungsverschiedenheiten über ein Kunstwerk zeigen,
dass es neu, vollständig und lebensfähig ist.

Wenn die Kritiker uneinig sind, so ist der Künstler
einig mit sich selbst.

Wir können Jemand, der etwas Nützliches geschaffen
hat, vergeben, so lang er’s nicht bewundert. Die einzige
Rechtfertigung für etwas Nutzloses ist, dass man es be-
wundert aus tiefster Seele.

Alle Kunst ist ganz nutzlos.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 336, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-09_n0336.html)