Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 337

Ueber Leo Tolstoj’s Lehre (Frommel, Gaston)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 337

Text

ÜBER LEO TOLSTOJ’S LEHRE.
Von Gaston Frommel (Zürich).

Im Journal der Moskauer Literaturgesellschaft (Sbornik Obscht-
schestwa ropijskoj slowes nosti) veröffentlichte Leo Tolstoj drei Parabeln,
die vielleicht bei Manchem den Eindruck hervorriefen, dass der Ver-
fasser das ursprünglich Herbe seiner Lehre etwas mildern wolle, dass
seine Energie mit dem zunehmenden Alter etwas nachlasse, dass am
Abend seines Lebens in seinen Ueberzeugungen ein Wandel eingetreten,
der Eifer seiner Propaganda erkaltet sei. Diese Annahme ist aber
offenbar falsch, obschon wir nicht leugnen können, dass der Verfasser
dieser Parabeln, vielleicht um seine Lehre besser vertheidigen zu können,
seine strengen Forderungen einigermassen abgeschwächt und auf das
Wesentliche beschränkt hat. Dass er aber von dem, was er bisher
lehrte, zurückgewichen sei, kann durchaus nicht behauptet werden.

In der ersten Parabel spricht er vom Fundamentalsatz seiner
Lehre: Widerstrebe dem Bösen nicht durch Gewaltmittel. Das Böse ist
ein den guten Acker überwucherndes Unkraut, und die Menschen
meinen, es zerstören zu können, indem sie es abmähen. Das Unver-
meidliche tritt ein: Je eifriger das Unkraut abgemäht wird, desto
üppiger schiesst es empor. Es ist ein circulus vitiosus, in dem wir uns
befinden; das Mittel, welches das Böse bekämpfen soll, bringt die ent-
gegengesetzte Wirkung hervor; trotz des angewandten Heilmittels nimmt
es, anstatt vermindert zu werden, grössere Dimensionen an. Der Fehler
liegt darin, dass man die alte, weise Lehre vergisst, die da vorschreibt,
man müsse das Unkraut nicht abmähen, sondern mit der Wurzel aus-
reissen, wenn man es vertilgen will. Leo Tolstoj erinnert nun an diese
vergessene, weise Vorschrift, aber man will sie nicht befolgen; man
widerlegt ihn zwar nicht, aber man verdreht und fälscht seine Lehre,
verurtheilt sie sogar als einen verbrecherischen Wahnsinn, der angeblich
dem Umsichgreifen des Unkrautes nur Vorschub leistet.

»Ich sage, das Evangelium lehrt, das ganze Leben des Menschen sei ein
Kampf gegen das Böse. Nach der Lehre Christi kann aber das Böse nicht durch
seinesgleichen entwurzelt werden; wer es durch Gewaltmittel bekämpfen will, der
vermehrt es nur. Jesus sagt ausdrücklich, das Böse lasse sich nur durch Güte
ausrotten. Aus diesen von mir wiederholten Worten zieht man nun den Schluss,
ich beschuldige den Stifter unserer Religion, dass er eine Lehre verkündigt habe,
die da verlangt, man solle dem Bösen überhaupt nicht widerstreben. Alle Menschen,
deren Existenz auf Gewaltthaten gegründet ist, denen folglich die Gewaltthätig-
keit lieb und werth ist, beeifern sich, diese falsche Auslegung meiner und daher
auch der Worte Jesu zu acceptiren; sie erklären, dass eine Lehre, welche ver-
langt, man solle dem Bösen nicht mit Gewalt widerstreben, lügnerisch, unsinnig,
gottlos und schädlich sei. Und unter dem Vorwande, das Böse zu vernichten,
fahren die Menschen ruhig fort, es neu zu erzeugen und zu vermehren.«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 337, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-09_n0337.html)