Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 338

Ueber Leo Tolstoj’s Lehre (Frommel, Gaston)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 338

Text

338 FROMMEL.

Die zweite Parabel enthält des Verfassers Urtheil über das Ver-
hältniss der modernen Kunst und Wissenschaft zur wahren, inneren Be-
deutung des Lebens. Er bezeichnet diese Kunst und Wissenschaft als
gefälschte Waare, die unfähig ist, den wahren Seelenhunger zu stillen;
er möchte sie durch einfachere, bessere Kost ersetzen. Aber auch hier
tritt ihm der nämliche Widerstand entgegen, auch hier setzt er sich
dem Gespötte aus. Die Städter, die gebildeten Leute, welche die
natürlichen Früchte des Feldes nicht kennen, überlassen die Wahl
ihren Lieferanten, und diese, die Enthüllung ihrer Fälschungen und den
Verlust ihrer Kundschaft fürchtend, schreien Zeter über die angeblich
ihnen zugefügte Verleumdung.

»Als ich die seit einer Reihe von Jahren unter der Maske moderner Wissen-
schaft und Kunst auf unserm Markte der Geistesproducte ausgebotenen Nah-
rungsmittel untersuchte und sie auch von andern, mir nahestehenden Personen
untersuchen liess, erkannte ich, dass der grössere Theil derselben durchaus nicht
rein sei. Ich erklärte nun, die Wissenschaft und Kunst, die man uns jetzt offerirt,
sind Fälschungen oder Mischungen, man habe der reinen Wissenschaft, der reinen
Kunst fremdartige, schädliche Substanzen beigemengt, denn ich hatte mich über-
zeugt, dass die von mir gekauften Producte für mich und meine Angehörigen
nicht nur unverdaulich, sondern auch absolut schädlich waren. Nun suchte ich
zu beweisen, dass diejenigen, welche mit diesen geistigen Lebensmitteln handeln,
sich gegenseitig als Betrüger brandmarken, dass man unter dem Vorwande, es
seien dies Producte der Wissenschaft und Kunst, uns fortwährend gefälschte und
schädliche Dinge angeboten und verkauft habe; es müsse daher angenommen
werden, dass diese Gefahr auch jetzt noch vorhanden sei, und dass es sich hier
folglich nicht etwa nur um unschuldige Spielereien, sondern um die Vergiftung
des Geistes handle, die weit gefährlicher ist, als eine Vergiftung des Körpers.
Und kein Mensch, kein einziger konnte mich widerlegen. Dagegen aber erscholl
aus allen Läden der Ruf: Er ist wahnsinnig, er will die Wissenschaft und die
Kunst, von denen wir leben, vernichten! Hört nicht auf ihn, wendet euch von
ihm ab, kommt zu uns, sehet unser Schaufenster an, wir haben die allermodernste,
ausländische Waare!«

Die Art und Weise, wie man heutzutage die militärische und die
sociale Frage behandelt, vergleicht Tolstoj mit der Leitung einer Reisegesell-
schaft, die das unsichere Gefühl hat, in der Irre zu gehen, es aber
nicht eingestehen will. Ein Theil dieser Gesellschaft fürchtet sich, die
gewohnten, altherkömmlichen Wege zu verlassen, er besteht hartnäckig
darauf, der bekannten Spur zu folgen, obschon er eingestehen muss,
ihr Endziel nicht zu kennen. Ein anderer Theil schweift, um den rich-
tigen Weg zu finden, rechts und links ab, nur um des eitlen Ver-
gnügens halber, umherzuschweifen. Wenn es sich aber darum handelt,
der Weisheit Gehör zu schenken, sich zu sammeln und zu orientiren,
bevor man sich endgiltig über den einzuschlagenden Weg entscheidet,
so fällt das Niemandem ein.

»Schwächlinge, Feiglinge, Faulenzer sind es, die uns das rathen,« sagen
die Einen. »Ein herrliches Mittel, um vorwärts zu kommen und das Ziel zu er-
reichen, wenn man immer nur auf demselben Fleck stehen bleiben soll!« rufen
die Andern. »Wir sind Männer, uns sind die Kräfte gegeben, damit wir sie
anstrengen, damit wir kämpfen, aber nicht, um schnöde zu resigniren! Weshalb
zurückbleiben, weshalb uns sammeln? Nur immer vorwärts, immer voraus, es
findet sich Alles von selbst!« Das Nämliche widerfuhr mir, als ich die Meinung
zu äussern wagte, dass der Weg in diesem düsteren Walde, wo wir uns verirrt
haben — die Arbeiterfrage sei, und dass der perfide Sumpf, in dem wir stecken

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 338, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-09_n0338.html)