Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 339

Ueber Leo Tolstoj’s Lehre (Frommel, Gaston)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 339

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ÜBER LEO TOLSTOJ’S LEHRE. 339

— die allgemeinen, unabsehbaren Rüstungen sind. Der Weg, den wir verfolgen,
könne daher nicht der richtige sein, und wir sollten lieber eine Weile innehalten,
das offenbar falsche Vorwärtsschreiten einstellen, uns sammeln und orientiren, und
zwar nach der uns von der ewigen Weltweisheit und Wahrheit vorgezeichneten
Richtung!

Diese Gleichnisse enthalten selbstverständlich durchaus nicht den
ganzen Inhalt der reformatorischen Theorie Leo Tolstoj’s; aber sie
kennzeichnen ihre Grundlage, und es genügt, diese zu kennen, um die
organische Entwicklung des ganzen Systems zu begreifen und um ein-
zusehen, dass der russische Philosoph, trotz der entmuthigenden Er-
fahrungen seiner Anhänger, von der Integrität seiner Ueberzeugungen
durchaus nichts aufgegeben hat.

Es liesse sich darüber noch mancherlei sagen, hauptsächlich aber
müsste Manches berichtigt werden, denn es gibt nur wenige Ueber-
zeugungen, von denen so viel gesprochen wird, und die doch so wenig
gekannt sind. Phantastische Uebersetzer und oberflächliche Leser haben
die Tolstoj’sche Lehre ganz merkwürdig verunstaltet, so dass die land-
läufige Meinung sie fast in eine Caricatur verwandelt hat. Man mag
darüber lachen, richtiger aber wäre es, wenn man sie zu verstehen
suchen würde. Wir wollen uns damit begnügen, den Charakter und die
wahre Bedeutung dieser Lehre zu kennzeichnen.

Zuvörderst müssen wir erklären, dass man auf Abwege gerathen
könnte, wollte man seine Ideen im objectiven Ausdruck der Lehre
suchen. An und für sich, ihrem Grundelement nach, ist Tolstoj’s Lehre
weder neu noch originell. Sowohl das westeuropäische Mittelalter wie
auch die neueren russischen Secten lieferten und liefern noch, wenn
auch nicht Gleichartiges, so doch Aehnliches. Die auf einem alten Funda-
ment von naturalistischem Pantheismus ruhende christliche Sittenlehre,
welche den Anspruch erhebt, eine neue Religion zu sein, rührt selbst-
verständlich nicht erst von Tolstoj her. Nicht er allein stellte eine
solche auf innerlich sociale Bestrebungen gegründete, vom Ideal der
glühenden Nächstenliebe durchdrungene, das Dogma von der dem
Menschen angeborenen Güte bestätigende Religion als Reformatorin
der menschlichen Gesellschaft auf. Die Weltgeschichte ist voll von
ähnlichen Regungen, die theils der Initiative Einzelner, theils der un-
ergründlichen Productivität der Massen entsprungen sind. Es ist nur
die Unkenntniss, das Befremdliche und zum Theil auch der Glanz eines
berühmten Namens, die in Europa den Glauben verbreiteten, dass Leo
Tolstoj’s Lehre etwas ganz Neues sei.

Ihre wahre Bedeutung liegt nicht in der Neuheit, sie liegt auch
weniger in ihren Erfolgen, als in ihrer bewegenden Kraft. Bei Tolstoj
steht thatsächlich der Mensch über seinen Ideen, er zeigt mehr Cha-
rakter als Intelligenz, mehr Genialität als Talent. Seine moralischen
Eigenschaften, seine Gewissenhaftigkeit in der Erforschung der Wahr-
heit, sein Muth, die von ihm erkannte Wahrheit zu bekennen, um sich
ihr zu unterwerfen und sie zu verkünden, das sind seine wahrhaft
grossen, originellen und höchst seltenen Vorzüge. Wer sich davon über-
zeugen will, muss seine sämmtlichen Werke durchforschen; der Roman-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 339, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-09_n0339.html)