Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 340

Ueber Leo Tolstoj’s Lehre (Frommel, Gaston)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 340

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340 FROMMEL.

schreiber darf nicht vom Moralphilosophen getrennt, die verschiedenen
Phasen einer die höchste geistige Einheit verwirklichenden Laufbahn
dürfen einander nicht entgegengestellt werden. Man muss vom Dichter
und vom Apostel bis zum Menschen selbst, bis zu dem Menschen
hinabsteigen, der zwar ein Mensch wie Alle, aber tief und leidenschaft-
lich human ist, der sich mit fieberhafter Unruhe den grossen Problemen
widmete, dessen Unruhe — welche die schlaffe Trägheit der Besten
unter uns kaum berührt — sich bis zur peinlichsten und schmerz-
haftesten Angst steigert, die eigentlich der Normalzustand jedes Menschen
sein sollte, der auf die Fragen des Lebens noch keine Antwort ge-
funden hat. Schon dies allein erhebt Tolstoj zu einem eigenartigen, ausser-
gewöhnlichen und mächtigen Wesen.

Wenn Tolstoj, nachdem er die Lebensfragen erörtert, den grösseren
Theil derselben auf paradoxe, zweifelhafte, sagen wir meinetwegen auch
irrthümliche Weise gelöst hat, und wenn es der Glanz seiner Irrthümer
war, dem er einen Theil seines Ruhmes verdankte, so ist es auch die
Evidenz dieser Irrthümer, die zum Theil an seinem Misserfolg schuld
ist. Ich sage zum Theil, denn der Misserfolg ist keineswegs ein voll-
ständiger. Wenn er sich einigermassen bitter darüber beklagt, so kommt das
daher, weil er auf zu unmittelbare, greifbare Erfolge rechnete, die mit
dem Wesen seines Priesteramtes unvereinbar sind. Tolstoj vergisst, dass
er ein Prophet ist. Wann aber hat wohl das prophetische Wort eine
solche Wirkung hervorgebracht, wie er sie erwartete?

Und wenn wir uns nur an das Programm der drei Gleichnisse
halten, kann man da nicht schon jetzt den Beginn einer Verwirklichung
desselben wahrnehmen? Obwohl die Menschheit im Ganzen noch nicht
aufgehört hat, den traditionellen Irrlehren nachzufolgen — und es ist
zweifellos, dass sie es schwerlich vermag —. obwohl noch Viele im
Strudel des Daseins blindlings vorwärts schreiten, obwohl nicht Alle
auf dem turbulenten Wege freiwilliger Verirrung innehalten, gibt es
dennoch schon Manche, welche auf die Stimme achten, die zu ihnen
spricht. Sie fangen an, sich zu sammeln, nachzudenken, und sind, ob-
schon ihre Folgerungen mit der ihnen verkündeten Lehre nicht über-
einstimmen, nur mit der beängstigenden, aber heilsamen Vision eines
zu lösenden Problems, eines zu verfolgenden Zieles, eines zu erfüllenden
Endzweckes vorwärts geschritten. Es gibt gegenwärtig nur wenige
Bücher, die, wenn sie mit Verständniss gelesen werden, so viel Stoff
zu ernstem Nachdenken bieten wie die Werke Leo Tolstoj’s. Ist das
etwa ein geringer Erfolg?

Mir scheint, dieses Resultat ist noch deutlicher in der überall
bemerkbaren und allmälig zunehmenden Reaction gegen den wissen-
schaftlichen Götzendienst zu erkennen. Tolstoj war weder der Erste,
noch der Einzige, der die angeblich erlösende Mission der Wissenschaft
als eine Illusion bezeichnete und der die Wissenschaft für unfähig
erklärte, die erhabene Rolle durchzuführen, welche ihr von einer un-
wissenden Menge und von einigen Eingeweihten längere Zeit hindurch
vindicirt wurde. Vor ihm und mit ihm waren noch Andere in dieser

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 340, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-09_n0340.html)