Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 341
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Richtung thätig. Hauptsächlich jedoch war es die Evidenz der That-
sachen, die mächtig dazu beitrug, diesen unheilvollen Irrthum zu zer-
stören. Tolstoj’s Bestrebungen haben dann das Uebrige gethan. Seine
meist treffenden, stets aber Aufsehen erregenden Angriffe fanden ein
vielfaches Echo und übten daher einen grösseren Einfluss aus als viele
andere, zwar weniger extreme, aber auch minder volksthümliche Ar-
gumente.
Es ist wohl unbestreitbar, dass das Erscheinen des russischen
Romanes in Westeuropa dem literarischen Naturalismus, d. h. gerade
derjenigen Richtung, die den wissenschaftlichen Aberglauben am eifrigsten
vertheidigt, den Todesstoss versetzte. Eine andere, entgegengesetzte
Richtung kam zur Geltung, sie schuf ein neues Ideal, eine neue Lebens-
auffassung und rief eine allgemeine Bewegung hervor. Auch darüber
kann sich Tolstoj durchaus nicht beklagen.
Weniger befriedigt wird er von dem Erfolge des Fundamentalsatzes
seines Systemes sein. Der Grundsatz, dass man dem Bösen nicht durch
Gewaltmittel widerstreben dürfe, hat nur wenig Aussicht, die Welt zu
erobern. Er ist zu radical und sein Verkünder zu anspruchsvoll. Wenn
man an die Consequenzen denkt, die ein solches Princip hervorrufen
muss, schrickt man zurück. Es handelt sich hiebei nicht nur um die
Unterdrückung der Kriege und des Militarismus — damit könnte man
sich leicht befreunden — sondern auch um die Beseitigung der Polizei,
der Gerichte und sogar der Möglichkeit des Erziehens. Die Menschheit
ist noch nicht so weit vorgeschritten, um solche für ihre sociale
Existenz nothwendige Hilfsmittel entbehren zu können. Wird sie es
überhaupt jemals sein?
Dieses Princip des Grafen Tolstoj hat übrigens durchaus nichts
Revolutionäres an sich. Würde es sich auf die Forderung beschränken,
dass man das Böse nur durch das Gute bekämpfen dürfe, so hätte es
nicht nur das Zeugniss des Evangeliums und der Erfahrung, sondern
auch den Beifall der meisten Menschen für sich. Aber was ist gut
und was ist böse? Darüber muss man sich zuvor verständigen.
Tolstoj, der in seiner Anschauungsweise und in seinen Schluss-
folgerungen vorzugsweise einseitig ist, kennt nur eine Definition: das
Böse ist der Zwang. Jeder Zwang, jedes Zwangsmittel, ohne Rücksicht
auf dessen Beweggrund, auch wenn der Zwang durch die reinste Liebe
hervorgerufen wird, ist vom Uebel. Das Gute ist die Nächstenliebe,
und zwar ausschliesslich nur diese; d. h. die unbegrenzte Nachsicht,
die totale, beständige, grenzenlose Verzichtleistung auf Alles, was den
freien Willen des Individuums durch äussere Zwangsmittel beschränkt,
selbst wenn diese Mittel auf Recht und Gerechtigkeit beruhen. Dass
die Nächstenliebe zu den höchsten Gütern der Menschheit gehört,
davon sind auch wir fest überzeugt, aber wir bezweifeln, dass eine
Nächstenliebe, wie Tolstoj sie definirt, die allein mögliche Form des
Guten sei, und wir begreifen nicht, wie dieser scharfsinnige Psychologe
es nicht empfand, dass neben der absoluten Nächstenliebe — allen-
falls ihr untergeordnet, aber doch von ihr abstammend und zu ihr
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 341, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-09_n0341.html)