Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 342

Ueber Leo Tolstoj’s Lehre (Frommel, Gaston)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 342

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342 FROMMEL.

hinführend — das höchste Gut auch noch andere, vorbereitende,
erziehende Formen hat; dass es zwischen dem absoluten Egoismus und
der stricten Nächstenliebe noch Mittelstufen gibt, namentlich das Recht
und die Gerechtigkeit! Man könnte vielleicht annehmen, dass diese,
wenn auch nur transitorischen und anfechtbaren Auskunftsmittel mit
der Zeit verschwinden werden, muss aber doch zugeben, dass sie
für die noch unvollkommene Menschheit einstweilen unentbehrlich
sind. Die Menschheit, welche sich gegenwärtig in einem nichts weniger
als vollkommenen Zustande befindet, kann nicht warten, bis sie die
Vollkommenheit erreicht hat, welche die Vorbedingung zu einer un-
beschränkten Nächstenliebe ist. Es muss daher Recht und Gerechtigkeit,
und zwar ganz entschieden gefordert werden. Dazu bedürfen wir aber
eines Minimums von Zwang, dessen Anwendung ohne Gewaltmittel
undenkbar ist.

Muss nun unbedingt daraus geschlossen werden, dass Tolstoj sogar in
dieser Beziehung total im Irrthum befangen ist? Dass es unmöglich sei,
in einer Welt, die die definitive Form der Nächstenliebe noch nicht zu
realisiren vermag, eine solche absolute Forderung zu vertheidigen?
Dass er der gegenwärtigen Menschheit ein solch blendendes Ideal nicht
vorhalten durfte? Im Gegentheile! Wir sind fest überzeugt, dass
nur selten ein Prophet so glücklich inspirirt war wie er. Und wenn
er sogar wirklich geirrt haben sollte, so täuscht er deswegen die ehr-
lichen Seelen dennoch nicht. Denn aus ihm spricht Einer, der grösser
ist als er. Wer war es doch, der zu sagen wagte: Seid vollkommen,
wie euer Vater im Himmel vollkommen ist! Keine Botschaft von oben
herab kann sowohl tröstender wie auch strenger sein als die Ver-
kündigung eines Ideals, das voll und ganz zwar nur vom Gewissen
bestätigt wird, dem dieses allein aber nicht Genüge leisten kann. Wenn
das Geschick des Menschen von diesem Ideal nicht getrennt werden
darf, so geschieht es deshalb, weil der Mensch, obschon tatsächlich
ein Sünder, dennoch erlösungsfähig ist und eine göttliche Bestimmung hat.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 342, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-09_n0342.html)