Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 361
Text
Wiener Rundschau.
1. APRIL 1897.
CHARFREITAGS-ZAUBER.
Eine Passionsgeschichte aus dem Münchener Künstlerleben.
Von Georg Fuchs (München).
Miserere, miserere nobis! Also ertönte es aus dem Un-
sichtbaren, von der Wölbung hernieder, klagend wie der
sterbende Tag. Es war dunkel in der Kirche und voll
Menschen. Ich stand in den Mantel gehüllt, nahe dem Ein-
gange gegen eine Säule gelehnt. Weit hinten im Chore
leuchtete ein ungeheures Kreuz aus tausend Kerzen, die
dicht ineinander wirbelten, wie ausgeschwärmte Bienen.
Miserere nobis!
Da legte sich eine Hand um meinen Arm, Stirnlöckchen
rührten meine Wangen und ein warmer Mund flüsterte.
Gleich darauf sind wir auf der Strasse im fröstelnden Regen
und flatternden Gaslichte. Wir drücken uns aneinander.
»Wohin?«
»Ich möchte in den Dom.«
»Zu unserer lieben Frauen! Warum sehe ich dich denn
gar nicht mehr, Alix? Du weisst doch.« — Sie zittert. »Warum,
Alix, warum?«
»Ich fürchte mich, ich fürchte mich vor dir und vor
allen Menschen.«
In tiefster Finsterniss schreiten wir hinauf in das Münster.
Die drei Hallen dehnen sich dunkel dahin, in der Vorhalle
steht eine dichte Menschenmenge, einige Weiber knien mit
Kerzlein in den Händen, und ihre glänzenden Lippen be-
wegen sich hastig. Wir treten sachte hinzu; erhöhte Leuchten
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 361, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0361.html)