Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 360

Servaes, »Goethe am Ausgang des Jahrhunderts« Louys, »Aphrodite«

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 360

Text

360 KRITIK.

den Perlen des Werkes gehören
die Capitel, in welchen der Ver-
fasser Goethe als Immoralisten und
als Erotiker schildert: manches
Paradoxe zwar, momentan blen-
dend, aber in der Hauptsache
wahr und vor Allem originell. Das
Buch klingt klagend aus: »die Har-
monie der Welt ist zerstört. Ihr
Traum wurde zum letztenmale ge-
träumt von einem Halbgott —
und der hiess Goethe!« Wir sind
nicht mehr das, was wir in jenen
Zeiten waren, und mit der Ver-
änderung des gesammten Milieus
ist auch unser poetisches Denken
und Fühlen in andere Bahnen ge-
lenkt worden. »Aber auf Goethe
blicken wir zurück wie auf eine
versunkene Welt der Schönheit,
Kraft und wundersamen Harmonie.
Auf seiner seligen Insel hin und
wieder zu landen, das wird uns
eine oft begehrte Stärkung sein«.

Aphrodite. Ein antikes
Sittenbild von Pierre Louÿs. Deutsch
bei Grimm. Budapest 1897.

Georg Ebers hat das zweifel-
hafte Verdienst in Anspruch ge-
nommen, den deutschen cultur-
historischen Roman zu schreiben.
Man kann seine vornehm ausge-
statteten Bücher mit Beruhigung
selbst einer »höheren Tochter« als
Lecture in die Hand geben. Schläft
sie aus wohlgesitteter Langweile
nicht bei der »Egyptischen Königs-
tochter« ein, so geschieht es um
so sicherer bei den »Schwestern«
oder nach dem geistigen Genuss
der »Gred«. Von congenialen Ge-
fühlen beseelt kann Felix Dahn
seinem Bruder im Apoll die schrei-
bende Rechte reichen: sein süss-
licher, anwidernd fader »Kampf
um Rom« hat gründlich mit bei-
getragen, den deutschen Cultur-

roman für lange Zeit zu dis-
creditiren.

Anders steht es mit dem Aus-
lande: Wallace hat in »Ben Hur«
ein grandioses Sittenbild geschaffen,
ihm schliesst sich Tor Hedberg
mit seinem »Judas« an. Flaubert
schrieb »Salambo«, ein Buch, das
ihn sofort in die erste Reihe der
Culturhistoriker stellte. In der
letzten Zeit hat sich Pierre Louÿs,
der Verfasser von »Astarté«,
»Chrysis«, »Lêda« und von »La
maison sur le Nil« mit »Aphrodite«
in den Vordergrund des Interesses
geschoben; noch nie hat ein Schrift-
steller so kühn den Vorhang von
all dem weggerissen, was sonst das
Geheimnis discreten Schweigens
bleibt, noch nie wurden die »Dinge«
so rüchsichtslos beim Namen ge-
nannt wie hier. Louÿs ist echter
Franzose; mit unnachahmlicher
Grazie führt er den Leser durch
all die unglaublichen, unsagbaren
Culturschöpfungen Alexandriens zur
höchsten Blüthezeit des Perversen
und Corrupten, zeichnet er das
Leben und Treiben des griechi-
schen Egypten, seine Phrynen, seine
Hetären, seine Bacchanale. Und
leise, kosend, dann wieder in den
schrillsten Tönen orgiastischer Lust
tönt der ewige Refrain der Mensch-
heit durch das Buch: Aphrodite!
Aphrodite! Blendende Bilder, fascini-
rend geschildert, von einem Hauche
wahren, nicht nachempfundenen
Hellenismus’ durchweht; darum
vibrirt auch in der Psyche des
kühlen Lesers lange noch des
Dichters Klage nach: »Verrons-nous
jamais revenir les jours d’Éphèse
et de Cyrène? Hélas! le monde
moderne succombe sous un en-
vahissement de laideur «

Alfred Neumann.


Herausgeber und verantwortlicher Redacteur: Rudolf Strauss.

Ch. Reisser & M. Werthner, Wien.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 9, S. 360, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-09_n0360.html)