Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 364

Charfreitags-Zauber (Fuchs, Georg)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 364

Text

364 FUCHS.

»Und darauf bist du wohl recht stolz?« sagte ich, indem
ich die Lichter am Pianoforte anzündete.

Sie riss ihr Taschentuch mitten durch, sie lachte und
stöhnte und sprach: »Es war ein Frevel! — Wir sollen treu
sein unseren Sinnen! Ich verfluche die Entsagung! Ich hasse
den Charfreitags-Zauber des Empfindens!« Sie setzte sich
und spielte. Das Werk war schwächlich: Er hatte nie einen
selbstständigen Takt geschrieben. Als sie die dumpfen Schluss-
accorde angeschlagen hatte, fiel ihr Köpfchen vornüber auf
die Brust. Sie sank in die Knie, ihre Arme schlugen auf
die Tasten, dass das Instrument grässlich aufschrie. Miserere,
miserere nobis! Dann sprang sie auf und rief mit blitzenden
Augen:

»Und du?«

»Ich liebe dich!«


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 10, S. 364, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-10_n0364.html)