Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 412
Text
Von Hermann Menkes.
Wir lieben ihn Alle mit derselben Liebe, wie wir unser erstes
Mädchen geliebt, denn er stand an der Wiege unserer einsamen Jugend
und zeigte uns die Farben der Welt, die uns öd und einsam erschienen;
den Duft der Rosen lehrte er uns empfinden und den Duft erträumter,
süsser Worte in einer Zeit, die ihre Sprache verloren zu haben schien
und wo alle Urnen der Begeisterung, des Rausches und des innerlichen
Glückes leer waren. Aus dem Lande des Winters und der Knute kam
Iwan Turgenjew und sang uns Lieder der Liebe, zeigte uns einsame
Schmerzen, die tiefer waren als die unsrigen, und entdeckte die Natur
und das Weib, als ob sie etwas Neues und seine Schöpfung wären.
Und aus den weichen, wärmeren Geländen Dänemarks, wo Hamlet’s
Geist herumspukte und traurige Menschen formte, zu zäh für den er-
lösenden Tod und zu gebrechlich und zart für das Leben, ein Ge-
schlecht von Harlekinen und Problematikern, von dort drang die Zauber-
stimme Jens Peter Jacobsen’s, des lichtvollen Sängers der Sehnsucht,
mit ihren weiblichen Klängen. Er war ein Romantiker des Wortes und
war doch des Lebens voll mit feinen, geheimen Wesenszügen, die den
Anderen unbekannt und fremd gewesen, und in seinem Herzen schlug
die dunkle, schmerzolle Sehnsucht, von der er lebte und an der er starb.
Er hatte nur die Liebe gekannt, der arme, glückliche Jacobsen, die
uninteressirte Liebe aus weiten Distanzen, und selbst in der Stunde, als
sein Tod herannahte, ihm, der noch voll von Jugend, von Träumen
und schweren Düften gewesen, schweifte sein gebrochener Blick hinaus
über seine liebe, liebe Welt, die er ja nur in Reflexionen genossen, dieser
Märchenprinz der Poesie, und seine Mutter hielt seine bleichen, er-
kaltenden Hände. Er hatte nur die Liebe gekannt; der Hass war ihm
ferne. Darum kam er mit dem Leben nicht aus; ihm fehlte jede Waffe.
Das Leben rann vor ihm in kühlen Strömen, und er hatte so viel
Sonne nöthig gehabt, nichts als Sonne, und darum stand er einsam auf
seiner Höhe, einsam in seiner Zeit und trauerte. Aber es war die
Trauer, die lacht mit goldigen Thränen und jubelt in märchenhaften
Träumen, weil sie sich eine andere Welt schafft. In der wirklichen
lebte er ja nur das Leben eines Emigranten: er hatte keine Heimat in
ihr. Und darum war seine Liebe stets eine Liebe aus Distanz gewesen;
er, der sich auf die Psyche und den Körper des Weibes verstand wie
Wenige, er hatte nie einen Mädchenmund geküsst; er hatte Angst vor
den Scherben seiner Träume. Und er hatte die grosse Angst vor dem
ganzen Leben, die aus jedem seiner wundervollen Worte zittert, die
1) »Gedichte« von Jens Peter Jacobsen. Deutsch von Robert F. Arnold, 1897.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 412, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0412.html)