Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 413
Text
ihre Zeit verspätet haben und einsam in einer fremden Welt hausen
müssen. Um ein treffendes Wort des Sienkiewicz zu gebrauchen: »Seine
Seele schleppte einen gebrochenen Flügel auf der Erde nach«; und des-
halb waren ihm die Flüge Shakespeare’s versagt. Aber weil so viel
Versagtes in seinem Leben war und er, dem der Purpur gebührte, in
der armen, stillen, sorgenvollen Stube sitzen musste mit siechem Körper,
darum war seine Zärtlichkeit für die Dinge so gross und einzig, und
darum klang sein Lied so innig wie das Lied schöner Kranker, die
das Leben grüssen, das weit weg von ihnen in die Dämmerung geht.
Er kannte jeden Sonnenstrahl, der an sein Krankenbett kam und um
angewelkte Blumen spielte; es gab keine Verkrümmung des Weges auf
weiten Haidestrecken, keine Kalkgrube, und sei sie noch so unschön,
»in welche er sich nicht für einen Moment verlieben konnte«; in die
Zauber lodernder Flammen über zusammenprasselnden Wänden, ver-
kohlenden Mädchenleibern und voll von Schreien der Angst bohrte sich
sein Blick, und er fand Worte und Farben für diese Momente, wo die
Seelen losgebunden werden und die bête humaine erwacht, prachtvoll
und von unvergleichlicher Schönheit. Und reizvoll malt er all die
kleinen Züge eines Mädchengesichtes, das, wodurch das Besondere einer
Physiognomie entsteht; eine Bewegung des Hauptes, den besondern
Tonfall einer Stimme, die Sprache der Hände — dafür hat er Worte
und Bezeichnungen gefunden, die früher unbekannt waren.
War er nur ein Kleinmaler gewesen? O, ich glaube, die sind immer
die Grössten. Die Kleinmalerei ist ja die einzige Art, in die Psyche des
modernen Menschen zu dringen, wo nichts aus einem Guss und Alles Mosaik
ist. Und deshalb gelang es ihm auch, wie allen grossen Dichtern, den Typus
seiner Zeit zu schaffen. Es war Niels Lyhne, in dem er sein ganzes
Geschlecht wiederspiegelte, ein Geschlecht, dem die Thore der Welt-
geschichte verschlossen waren; Hamlet-Naturen ohne wahre Tragik,
Schlemihle, die ihren Schatten suchten. Die Natur gab ihnen karge
Gaben und nur den heissen Durst nach Genüssen; ihre Seelen hatten
der Saiten viele, aber Niemand war des Spieles kundig, und so glichen
sie tauben Aehren, nutzlos einem sterilen Boden entsprossen und nutzlos
der Sichel des Todes verfallen. Und so sassen sie in der Abend-
dämmerung ihrer Zeit und warteten, weil sie sich für die Ewigkeit ge-
schaffen wähnten und so wurden sie Menschen, die ihre überfeinerten
Reflexionen für das Leben nahmen, und die von Conflict zu Conflict
taumelten, von Liebe zu stets neuer Liebe, stets unbefriedigt in ihrer
Impotenz, vergebliche Tafelzerbrecher eherner Gesetze. So geartet, wie
sie waren, empfanden sie auch Schmerzen tiefer und Alles, was das
Leben ihnen versagte; sie waren Gourmands, die hungern müssen,
mondsüchtige Pierrots, grotesk und graciös, und deren tiefste Tragik
die war, dass sie keine hatten. Sie, die mit erhitzten Gesichtern und
aufgekrämpelten Aermeln in die leere Luft stiessen mit dem Anscheine,
Felsstücke zu wälzen, sie befanden sich auf jenem gefährlichen Punkte,
wo die Komik dem Ernst die Hand reicht. Und während ihr Auge
brach, lachten die Humoristen:
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 413, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0413.html)