Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 417

Alfred v. Berger’s Kritiken und Studien (Necker, Moritz)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 417

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ALFRED VON BERGER’S »KRITIKEN UND STUDIEN«,
Von Moritz Necker (Wien).

Den Alten war der Philosoph ein Mensch, der die Weisheit liebt,
die Wahrheit sucht, nicht aber schon in ihrem Besitze ist. Ein Suchender,
ein Liebender, ein Sehnsüchtiger ist so recht eigentlich jeder Aesthetiker,
der Philosoph der Kunst im Besonderen. Er ist nicht selbst Künstler,
aber er liebt die Künstler; er kann nicht selbst Schönes schaffen, aber
er kann sich am Genuss des Schönen nie genug thun. Liebevoll geht
er hinter den Begnadeten einher, versenkt sich in ihre Seele, in ihr
Gemüth, vergleicht sich selbst mit ihnen, sieht den Unterschied zwischen
Künstlern und Nichtkünstlern und findet darin seinen schwermüthigen,
aber doch auch beglückenden Genuss. Im Laufe der Zeiten ist aller-
dings auch das Kunstbetrachten, das Aesthetisiren ein Geschäft ge-
worden, das nüchtern wie so vieles Andere betrieben wird, und die
richtigen Aesthetiker, denen man die Sehnsucht nach der Kunst, den
Genuss anmerkt, sind so selten wie die rechten Künstler selbst. Trifft
man dann aber auf einen Aesthetiker, dem man das persönliche Er-
griffensein anmerkt, dann freilich wird er uns nicht weniger theuer als
ein eigentlicher Künstler; denn seine Erkenntniss ist nicht minder
Sache der Intuition als das Schaffen des Dichters, und seine Wirkung
ist von verwandter Art.

Solch ein Aesthetiker ist Alfred Freiherr v. ?erger, dessen
»Kritiken und Studien« kürzlich im Verlag der Literarischen Gesell-
schaft in Wien erschienen sind. Sie enthalten Aufsätze über alte und
neue Dichter, über Homer, Aeschylos, Dante, Shakespeare, Otto Ludwig
und Friedrich Schiller, Grillparzer, Byron, Kleist, Ibsen, Dostojewski,
Gerhart Hauptmann, Schnitzler u. s. w. Man macht im Flug die ganze
Literaturgeschichte durch. In jedem dieser Aufsätze beschäftigt sich
Berger mit dem einzelnen Dichter, seiner ganzen Persönlichkeit oder
seinem Werke. Berger ist Individualist. Ihn fesselt das einzelne Wesen
in seiner Organisation und Erscheinung. Er vertieft sich darein mit
wissenschaftlich geschulter Phantasie und mit der Freude des Künstlers
am Original. Er sucht die charakteristischen Züge darin auf: »die
Grundgeberde«, und bemüht sich, aus dem einen und dem anderen
Grundtrieb alle anderen künstlerischen Neigungen und Eigenschaften
des Dichters zu erklären. Er ist gleichzeitig ein Zergliederer und ein
Zusammensetzer, Psycholog und Künstler. Er urtheilt und erklärt zu-
gleich, warum er so urtheilen muss. Dabei sieht er die Dichter auch
historisch an; er stellt sie mitten in ihre Zeit hinein und scheidet mit
grosser Feinheit das, was der ursprünglichen Natur, von dem, was dem
Milieu in der Erscheinung des Mannes zugehört. Kurz, er ist mit allen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 417, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0417.html)