Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 418

Alfred v. Berger’s Kritiken und Studien (Necker, Moritz)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 418

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418 NECKER.

Künsten des modernen Literarhistorikers vertraut und übt sie in
vollendeter Form.

Aber das allein, so schön und werthvoll es an sich ist und so
wenige es nachmachen können, würde mir das Buch Berger’s nicht so
werthvoll erscheinen lassen, als es in Wahrheit ist. Die Aufsätze, so
selbstständig sie jeder für sich dastehen und des inneren Systems zu
entbehren scheinen, haben nämlich einen inneren Zusammenhang; das
Buch als Ganzes hat seine Tendenz; der Mann, der es schrieb, will
etwas und trägt eine in sich geschlossene künstlerische Anschauung
vor. Diese Einheit in den verschiedenen Aufsätzen fesselt mich, und
ich will die wesentlichen Gründzüge dieser Anschauung und Tendenz
skizziren.

»Fühlen ist Kunst, nicht Natur, und die Lehrerin in dieser Kunst
ist vor Allem die Poesie Man wähne doch nicht, dass das Menschen-
gemüth reine menschliche Gefühle von selbst hervorbringt. So wenig
die Geräusche und Schreie der Natur echte Töne im musikalischen
Sinne des Wortes sind, so wenig ist der rohe, unreine Aufschrei des
Herzens, der Affect, ein Gefühl im menschlichen Sinne. Nur ein
musikalisches Instrument bringt musikalischen Ton hervor, und nur der
Mensch, der sein Herz zu einem kunstvollen Instrument gemacht hat,
wie der Sänger seine Kehle zum Musikinstrument ausbildet, vermag
menschlich zu empfinden.«

Mit diesen Sätzen, welche gleich sein erstes Capitel: »Homer«
enthält, spricht Berger den ersten Gedanken aus, der ihn führt: Kunst
ist nicht Natur. Seine Sätze erinnern hier lebhaft au die Lehren der
Decadenten. Was aber ist Kunst? Darauf gibt er im zweiten Aufsatz,
über Aeschylos, Antwort, wo er sagt:

»Diejenigen mögen Recht haben, welche behaupten: ohne Sinnes-
eindrücke keine Phantasiebilder. Aber die Dichtung kommt aus der
Phantasie, nicht aus der Wahrnehmung. Strebt der moderne, den
Hellenen, wenigstens ihren Dichtern, wahrscheinlich gänzlich unver-
ständliche Realismus danach, nur solche Phantasien zu haben, welche
inhaltlich den Wahrnehmungen der Wirklichkeit gleichen, so wäre
das ideale Ziel des hellenischen Bestrebens, den Phantasien die Leib-
haftigkeit von Sinneswahrnehmungen zu verleihen. Ein Wesen, das es
gar nicht gibt, ein Charakter, der in Wirklichkeit nicht seinesgleichen
hat, so imaginirt und dargestellt, dass wir ihn lebendig vor uns zu
haben wähnen — ist das nicht auch Realismus? Hellenisches Kunst-
ziel ist: Verwirklichen des Phantasirten; modernes: Phantasiren des
Wirklichen. Die Vision, die Ausgeburt überschwenglichen, einem
Phantasiegebilde geltenden Fühlen«, ist die Keimzelle hellenischen
Dramas.«

Mit diesen Sätzen hat Berger sein zweites grundlegendes Princip
ausgesprochen. Die Kunst will von Haus aus nicht nachahmen, sondern
innere Visionen so anschaulich gestalten, dass sie wie Wirklichkeit an-
muthen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 418, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0418.html)