Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 421
Th. Th. Heine (Neumann, Alfred)
Text
Von Alfred Neumann (Wien).
Sache qu’il faut aimer, sans faire la grimace,
Le pauvre, le méchant, le tortu, l’hébété
Baudelaire, Le Rebelle.
Noch vor drei Jahren wäre die Frage »Wer ist Thomas Theodor
Heine?« entweder mit einem Achselzucken oder von Eingeweihteren mit
dem wenig sagenden Satze beantwortet worden: »Ein Mitarbeiter der
‚Fliegenden Blätter‘, wie Schlittgen, Albrecht, Zopf « Heute liegt die
Sache anders: Der Münchener Maler ist eine Persönlichkeit geworden;
in seinen Arbeiten spiegelt sich nicht bloss seine inzwischen entwickelte
und stark ausgeprägte Individualität wieder, sondern heute vertritt
Heine mit seinen Skizzen und seinen einfachen, wenig auf technische
Effecte abzielenden Gemälden auch den Typus, den unsere Zeit hervor-
gebracht hat und auf allen Gebieten der Kunst hervorbringen musste,
den gereizten, ideenverfolgten Künstler, der mit offenen Augen auf eine
vernagelte Bretterbude sieht und der nun mit grellem, oft diabolischem
Lachen ans Tageslicht zerrt, was sich in dem unbestimmten clair-
obscur des modernen Banausenthums verstecken, die côtés faibles ver-
bergen will; in der Oeffentlichkeit secirt und legt er alles Kranke mit
seinem Skalpell, mit seinem scharfen, unbarmherzigen Pinsel bloss,
dass es offen und blutig daliegt zur Freude aller Misanthropen.
Wie Heine zu diesem Umschwunge kam, liesse sich nicht so leicht
sagen; er selbst schrieb mir einmal darüber: »Sie wundern sich über
den Unterschied zwischen meinen jetzigen Zeichnungen und denen, die
ich früher in anderen Blättern veröffentlicht habe? Das kam daher,
dass die — früheren Blätter mir gar keine künstlerische und sonstige
Freiheit liessen, wie sich dieses Journal überhaupt ganz irriger-
weise des Rufes erfreut, von künstlerischen Gesichtspunkten geleitet zu
werden Ich habe in Düsseldorf bei Peter Jansen studirt; die meisten
Anregungen verdanke ich den Bildern von Lucas Cranach, Max Klinger
und Leibl. Gegen die ‚Schotten‘ sowie gegen die französischen süssen
Actmaler habe ich eine starke Abneigung. Auch finde ich, dass man
nicht gar so schwülstig von der Kunst der Japaner zu sprechen braucht,
da viele der primitiven, altdeutschen Meister dieselbe einfache Technik
mit weniger Koketterie besitzen «
Wenn man eines der vielen Bilder betrachtet, die Heine geradezu
im Fluge, von Woche zu Woche in die Welt sendet, theils aus eigener
Anschauung entstanden, theils fremder Anregung verdankt, so drängt
sich gar bald die Ueberzeugung auf, dass alle, wenn auch im ersten
Momente von ihnen manche harmlos scheinen, den einen Zug gemeinsam
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 421, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0421.html)