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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 422

Text

422 NEUMANN.

haben: die Ironie, der nichts mehr heilig ist, »parce qu’il n’y a plus
de saint dans ce monde moderne«.

Heine’s Skizzen verrathen dem aufmerksamen, feinfühligen Be-
trachter, dass sich hier unter der Maske des Spötters ein empfindlicher,
geradezu neurasthenischer Geist verbirgt, ein Nervöser, der nicht nervös
wurde, weil er zu viel arbeitete, sondern der fast zu viel arbeitet, weil er
nervös wurde. Und dieser Münchener Revolutionär hat so lange mit
seinen für Schönheit empfindlichen und empfänglichen Augen in das
eintönige Grau unseres Lebens geblickt, in welchem die einzige Ab-
wechslung — schwarze Flecken bilden, bis sie blind geworden sind
für das, was den hommes médiocres als schön, erhebend, tröstend gilt,
und bis er nur mehr das sieht, was grau und schwarz ist. Diese triste
Weltanschauung weiss Heine allerdings höchst geschickt durch allerlei
Capriolen und lustige Grimassen zu verbergen, so dass ihn der ober-
flächliche Betrachter für einen ganz capitalen Spassvogel hält, dem wohl,
ach wie wohl zu Muthe ist. Aber: »E se lassù Pagliaccio «

Im Soane-Museum und in der National-Galerie in London hängen
die Bilder William Hogarth’s, »der mit schneidender Satyre und bitterer
Ironie die Kehrseite der menschlichen Verhältnisse hervorzieht und die
hinter der äusseren Glätte des fashionablen Lebens schlummernde
Falschheit und Lüge, ihre Thorheiten mit scharfem Spotte geisselt. In
geistreich lebendiger Pinselführung wirft er meist ganze Reihenfolgen
solcher Scenen, wie ‚Den Lebensgang der Liederlichen‘, ‚Die Heirat nach
der Mode‘, ‚Den Lebensgang der Buhlerin‘ keck und leicht hin.« Diese
Charakterisirung könnte direct auf Heine geschrieben sein; es sind
seine Sujets, seine Ideen, seine Bilder; der Münchener war wohl erst
Realist; nun ist es wirklich kein Paradox mehr, wenn man behauptet,
ein Künstler, der im wahren Sinne des Wortes Realist ist, müsse
heute unbedingt Socialist werden; er gibt das in der Wirklichkeit
Vorhandene geradeso wieder, wie es sich in Wirklichkeit zeigt; was
er aber zu sehen bekommt, sind keine erfreulichen Dinge: die socialen
Gegensät ze, die furchtbare Nothlage des Proletariats, die Ausschrei-
tungen d es zu einer ungeahnten und unverdienten Höhe emporge-
wachsenen Militarismus, die Zersetzung, welche die Prostitution mit
sich bringt, der totale Zerfall des Ehelebens, der Classen- und Rassen-
kampf, die Corruption auf jeglichem Gebiete, der Antagonismus ein-
zelner Individuen im Existenzstreite. Und Heine hält die Augen nicht
verschlossen und ist von Natur aus kein friedlicher Zeichner; so greift
er denn ins volle Menschenleben, nein, er greift nicht, er sticht mit
einem spitzen Degen hinein und spiesst seine Opfer auf, die er dann
auf eine genial-grausame Art mordet.

Der »Simplicissimus«, jene hochinteressante Zeitung Albert Langen’s,
ist das Schafott, auf welches Heine seine Opfer schleppt, und wo er
die Häupter der Getödteten aufsteckt zum warnenden Zeichen. Kaum
ein Bild (selbst die sonst harmlosen Zierleisten eingeschlossen), das nicht
einen ironischen, satyrisch-socialistischen Zug trüge; es sind Zeichnungen,
die direct nach dem Staatsanwalt rufen, und deren Stimme nicht

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 422, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0422.html)