Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 423
Th. Th. Heine (Neumann, Alfred)
Text
ungehört verhallt: die häufigen Confiscationen beweisen das. Man
betrachte z. B. »Die unverschämte Person«. Bourgeois und Bour-
geoise beim Morgenkaffee, während das Hündchen allerlei gute Dinge
aus dem Teller frisst. Daneben eine ausgemergelte, mit sämmtlichen
Zeichen des Hungers, der Entbehrung, der Noth gezeichnete Proleta-
rierin, ein abgemagertes, krankes Kind im Arm. Man muss diese
Zeichnung gesehen haben, um zu wissen, wer und wie Thomas Theodor
Heine ist: Aus solchen Dingen spricht nicht mehr der Satyriker, der
mit »einem heiteren, einem nassen Auge« seine Umgebung betrachtet,
diese Art und Weise verräth schon den fanatischen, gereizten Träger
einer Idee, deren bisheriges Nichtdurchdringen die milden Saiten in ihm
zerrissen und schrillklingende, fast misstönende Chorden an ihre
Stelle gesetzt hat. Dieser dicke, bornirte Kerl, der das Prototyp der
Noth verständnisslos, lethargisch anstiert, dieses gemästete, kaffee-
schlürfende Weib, sogar dieser Hund, den Heine zeichnet und
»zeichnen« will! Friedrich Theodor Vischer möchte ein gar verdutztes
Gesicht machen, wenn er sähe, wie sein Landsmann seine Lieb-
linge, den Inbegriff der Treue und Intelligenz, auffasst, die in »Auch
Einer« so rührend geschildert werden. Alles aber, was Heine an grau-
samer Liebe besitzt, hat er in dem bettelnden Weibe niedergelegt: aus
diesen verfallenen Zügen, diesem lendenlahmen Körper, den Alles schon
geschwächt hat, was schwächen muss, Noth, Entbehrung, Laster, spricht
die Anklage gegen die herrschenden Zustände »Mörtelweibs Tochter«
illustrirt ein Gedicht, welches das Schicksal eines Proletarierkindes
besingt, ebenfalls ein echter Heine in der Auffassung des Milieus, der
Darstellung des Kindes, das von seiner Mutter singt:
»Uma fünfe geht’s an d’ Arbeit schon,
Um zwoa Mark im Tagelohn,
Und kimmt’s auf d’Nacht um sechs vom Bau,
Schlagt’s der Vater braun und blau.«
(Korfitz Holm.)
Ein lustiges Lied, eine lustige Zeichnung
Die »Bilder aus dem Familienleben«, deren bisher sechs erschienen
sind, stellen durchgehend blutige Satyren auf unsere Gesellschaftszustände
dar: »Fritzchens Geburtstag« und »Fridas schönstes Weihnachtsgeschenk«
sind geharnischte Angriffe gegen das Vegetiren im Bornirten, das unseren,
den deutschen Mittelstand so ganz besonders auszeichnet, Angriffe, die
sich namentlich gegen das unverschämte Ancajoliren des Militärstandes
wenden. Die Frage eines Privatiersöhnchens: »Papa, was willst du
eigentlich mal werden?« wird ebenso drastisch illustrirt wie der Text
zum »Verlorenen Sohn«: wahre Cabinetstücke an Hohn und Hass,
die aus jedem Striche, jeder Schattirung wehen. »Nach der Löhnung«
zeigt einen total betrunkenen Arbeiter, der soeben seinen Wochenlohn
in irgend einer Destillation gelassen hat und den nun — Bilder aus
dem Familienleben! — seine Kinder an den Händen, sein Weib an
den Füssen gepackt haben, um ihn nach Hause zu schleppen; das Sujet
ist nicht neu, neu aber ist die ganze Behandlung dieses Stoffes, diese
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 423, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0423.html)