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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 424

Text

424 NEUMANN.

furchtbare Drastik, die mit wenigen Linien und drei Worten Text eine
entsetzliche Geschichte erzählt, die Leidensgeschichte einer ganzen,
grossen Bevölkerungsschichte, zu deren Schilderung andere Maler (Were-
schagin, Detaille u. s. w.) viele Meter Leinwand, Schriftsteller, so Dosto-
jewsky, Poe, Gogol, hunderte von Seiten brauchten »Das Kostkind«
mit dem Texte: »Am Lande ein reinlicher Kostplatz zu vergeben«
führt ein Kind discreter Geburt vor Augen, das sich mitten unter den
»weisszahnigen Schweinen« im Stalle wälzt; hier geht der Pfeil gegen
die Art leichtfertiger Leute, die in süssen Schäferstunden für die
Erhaltung der Art sorgten und nun das »Resultat« beseitigen, indem
sie es zu fremden Leuten geben. Auf die hohen und höchsten Herr-
schaften schliesslich hat es der radicale Zeichner besonders scharf; aber
dieses Thema ist für Oesterreich gar zu heikel und confiscirlich

Seinen ganzen Ingrimm legt Heine in den vollkommen textlosen
Bildern nieder; vielleicht denkt er, mit einer leichten Variante eines
bekannten Liedes: »Was man nicht sagen kann, das zeichnet man.«
Das markanteste Beispiel dafür ist das Placat für den »Simplicissimus«:
ein stämmiger, bissiger Bullenbeisser, der mit grimmigen Augen, aus
denen die Wuth ordentlich funkelt, vor sich hinstarrt. Vom Halse
herab schleift noch ein kleines Stück der Kette, die er zerrissen. Wunders
genug, dass die Polizei, die sonst ein gar liebevoll-wachsames Auge auf
den »Simplicissimus« hat, dieses Placat so unbeanstandet angehen liess:
es liegt darin die vollendetste Aufreizung zur Revolution.

Diese Zeichnung enthält übrigens eine Eigenthümlichkeit Heine’s,
die sich auf anderen seiner Bilder noch deutlicher verfolgen lässt; es
ist die Art und Weise, wie er die Thiere abbildet, und überhaupt die
Rolle, die er ihnen in der Illustration zuweist. Katzen und besonders
Hunde erhalten unter seinem Pinsel ein ganz eigenthümliches Gepräge,
das seine Intentionen genau verräth. Selbstverständlich ist es, dass
er Ideen, die er nur unter Gefahr Menschen insinuiren könnte, durch
Thiergestalten repräsentiren lässt, die nicht so leicht ins Bereich
des Paragraphen so und so viel des Strafgesetzbuches fallen können.
Daher sind seine Thierstücke die prägnantesten Bilder, welche seine
Gedanken rein und ungetrübt enthalten.

Unwillkürlich drängt sich dem Betrachter Heine’scher Bilder der
Vergleich mit drei anderen Satyrikern des Pinsels auf: mit Oberländer,
dem alten, bewährten Zeichner der «Fliegenden Blätter«, Steinlen,
dem Franzosen, und Phil May, dem sarkastischen Engländer,
momentan einem der beliebtesten realistischen Illustratoren. Wenn
Ola Hansson über Oberländer sagte: »Oberländer’s Lebensanschauung
ruht auf einem Fundament von sehr hartem Stoff — Stoff von
allerbester Härte. Sie ist genau so hart wie das Leben selbst; sie
ist eben hart, weil das Leben selbst mit Härte waltet. Und dass das
Leben hart ist und sein muss, ist wieder dadurch bedingt, dass das
sogenannte Thier noch immer im sogenannten Menschen sein Wesen
treibt ,« möchte ich diesen Satz eher auf Heine angewendet sehen,
besonders aber einen anderen Passus: »Nur der kann aus sich heraus

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 424, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0424.html)