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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 425

Text

THOMAS THEODOR HEINE. 425

etwas schaffen, das durch die Zeiten steht, ohne zu verwittern, der
in sich ein Weltbild trägt, das eins mit seiner ganzen Persönlichkeit
geworden ist; ob dieses in einem Individuum lebendig gewordene Welt-
bild als Gedankengebäude oder als Traumvision nach aussen ejicirt
wird, hängt von der Art der schöpferischen Phantasie ab. Eine solche
lebenstüchtige Kunst ist die Oberländer’s.« Bei aller Achtung vor dem
Zeichner der »Fliegenden Blätter« und der »Münchener Bilderbogen«,
dem fast alle Menschen schon vergnügte Stunden verdanken, muss
man doch zugestehen, dass Th. Th. Heine gerade in dem, was Ola
Hansson an Oberländer so gross findet, seinen Collegen überragt.
Heine ist es, der in sich ein »Weltbild« trägt, das er mit ein paar
kühnen Strichen zeichnet, oder dessen Conträr-Pendant er festhält; er
skizzirt nicht den Durchschnittsmenschen, das Durchschnittsthier, die
Durchschnittssache — er stellt immer, und das ist sein grösstes Ver-
dienst, den vollendeten Typus dessen auf, was er schildern will; darin,
in diesem Combiniren von Determination und Abstraction liegt das
Mächtige, Grosse der Heine’schen Kunst.

Steinlen, der geniale Zeichner des »Gil Blas illustré«, hat in
der Idee selbst eine grosse Aehnlichkeit mit dem Münchener, doch
ist seine Technik von derjenigen, welche Heine besitzt, ganz ver-
schieden. Heine liebt das Eckige, Scharfe, in der Farbe oft auch
das Grelle (vergl. »Moderne Prinzessinnen« und «Enttäuschung« sowie
»Sylvesternacht«), während Steinlen seinen Bildern weiche, runde Linien
gibt und gemässigte, sanftere Farben vorzieht. In der Intention aller-
dings begegnen sie sich, besonders in ihren Angriffen gegen die Gesell-
schaft; doch auch der Umfang ihrer Attaquen ist nicht der gleiche:
Steinlen sendet seine Geschosse bloss in das Lager der Séducteurs,
der Suborneurs, gegen die Demi-monde, während Heine noch andere
Angriffe gegen die Convention und ihre Auswüchse richtet.

Phil May endlich hat in jeder Beziehung grosse Aehnlichkeit
mit Heine: er wählt sich seine Themata aus denselben Bevölkerungs-
schichten Londons, welche Heine in München und Berlin studirt. Selbst-
verständlich verleugnet die Art und Weise May’s ihren britischen Ur-
sprung niemals, aber es ist doch ein grosser Unterschied zwischen ihr
und der von Chadwell Smith, E. F. Skinner, Ewan, J. S. Crompton
und wie die bekannten englischen Illustratoren heissen. Man betrachte
zum Beispiel nur die verschiedenen Bilder Phil May’s, wie er die zer-
lumpten, vernachlässigten Kinder des Themsebabel auffasst, und man
wird sich gar lebhaft an Th. Th. Heine erinnert fühlen.

Heine ist keine jener ephemären Erscheinungen, die wir im mo-
dernen Kunstleben so oft treffen: nach einem kurzen, schwindelnden
Erfolg eine vollkommene Décadence, ein Zurücksinken in die frühere
Unbedeutendheit; er, der heute noch fast am Anfange seiner Thätigkeit
steht, wird gewiss, wenn er fortfährt, wie er begonnen, einen Abschnitt,
eine Phase bedeuten in jenem Capitel der Kunst, das heute aufgeschlagen
vor uns liegt — der satyrisch-socialistischen Moderne. So vernichtend,
so destructiv er auch auf den ersten Blick erscheinen mag — sein

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 425, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0425.html)