Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 420
Text
hören. Der Umweg — wenn es einer ist — war nöthig, denn obwohl
heutzutage das Wort »Persönlichkeit« in aller Leute Munde ist, wissen
doch Wenige, wie es in Wahrheit um Persönlichkeiten bestellt ist. Die
Wenigsten erkennen, dass nicht Jeder eine Persönlichkeit ist, der aus
Originalitätssucht von sich reden macht. Es gibt gesunde und kranke
Persönlichkeiten in der Kunst. Der Vergleich beider beschäftigt Berger
in dem ausgezeichneten Aufsatze über Otto Ludwig und Friedrich
Schiller, auf den ich aber nur mehr verweisen will. Dieser Essay ist
um so wichtiger, als das Wissen um die künstlerische Gesundheit gegen-
wärtig im Zeitalter der Decadenz gefährdet ist. Wir sehnen uns nach
einer originalen Kunst und verzagen, sie zu erringen. Wir sind schwache
Menschen geworden, die sich mit überzartem Gefühl von der Berührung
mit der Wirklichkeit zurückziehen, und lieber auf die Stimme des
Innern lauschen oder sich künstlich eine unwahre Welt schaffen. Wir
sind sehr gute Psychologen und verehren daher Nietzsche, den Meister-
decadent, der sich in der Zerfaserung seines Innern selbst aufgerieben
hat. Alle diese Zustände kennt auch Berger, aber sein Hauptzweck ist
der Nachweis, dass sie künstlerisch unfruchtbar sind.
In die Seele des kranken Künstlers hat er tiefere Einblicke ge-
than als irgend ein Anderer. Es bedarf nicht besonderen Scharfblickes,
um zu merken, dass Alfred v. Berger jenes Leid, woran so viele, und
just die begabtesten unserer Dichter (z. B. Hauptmann) so schwer ge-
tragen haben und vielleicht noch tragen, nämlich den Schmerz über das
Missverhältniss von Wollen und Können, aus eigenster Erfahrung kennt.
Hat er sich doch viele Jahre seines Lebens bemüht, dichterisch zu
schaffen. Er hat gerungen um die Kunst, bis er zur Einsicht kam, dass
er, der an »chronischer Psychologie« erkrankte Dichter, doch eigentlich
nur ein poetischer Philosoph sein könne. Sein vergebliches Ringen war
für ihn aber nicht unfruchtbar. Es schärfte sein Verständniss für die
tiefen Unterschiede der echten und unechten, der lebensfähigen und
kranken Kunst, allein indem er sich vor den schmermüthigen Lockungen
der Decadenz bewahrte und zur Erkenntniss jener Dichter gelangte, die
wahrhaft gross waren, befestigten sich in ihm die Grundsätze, die allein
zur Kunst führen, und die Verbreitung derselben wurde der Zweck
seiner kritischen Thätigkeit. Die Heilung von der Decadenz ist die
Tendenz seines Buches.
Berger ist mit seinem Individualismus, mit seinem Cultus der
Persönlichkeit, mit seinem Ausgange von der subjectiven Seite der Kunst,
mit seiner naturwissenschaftlich geschulten Psychologie ein moderner
Aesthetiker durch und durch, aber kein Aesthetiker der »Moderne«,
denn er weist die Wege, die weit über Sie hinaus führen sollen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 420, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0420.html)