Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 419

Alfred v. Berger’s Kritiken und Studien (Necker, Moritz)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 419

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BERGER’S KRITIKEN UND STUDIEN. 419

Nun kommt er zu Dante, und die Betrachtung Dante’s muss ihm
dazu dienen, eine dritte Erkenntniss auszusprechen, die Erkenntniss der
dichterischen Persönlichkeit.

»Die ungebrochene Willens- und Wesenskraft des Mannes der
That, der mit all seinen Kräften und Klauen die Wirklichkeit packt,
wie etwa ein Bismarck, den wir so oft in unseren Tagen als Beispiel
anrufen müssen, um lebendig darzustellen, was eine volle, ungebrochene,
ungezähmte Persönlichkeit ist, die redet stumm aus Dante’s Gedicht.
Dieses erzittert leise von dem wuchtigen, inneren Arbeiten der Leiden-
schaften. Denke man sich nur, dass Bismarck die Gabe der Dichtung
verliehen wäre!«

Jetzt nähern wir uns dem Kerne der Berger’schen Aesthetik.
Zum grossen Dichter gehört nicht bloss Phantasie von einer Macht,
die bis zur Vision gesteigert ist, sondern auch Leidenschaft. Ein starker
Wille, der Trieb, energisch auf die Welt zu wirken, unter Umständen
auch in die Welthändel thätig einzugreifen, war den grössten Dichtern
eigen. Sie waren nicht bloss ästhetische Genussmenschen.

Von Dante führt uns Berger zu Shakespeare; hier findet er das
Ideal der dichterischen Persönlichkeit, und in halb poetischer, halb
wissenschaftlicher Weise schildert er sie uns. Dante war nicht immer
Herr seiner Leidenschaften, er stellte seine Kunst in den Dienst seiner
politischen Sym- und Antipathien. Shakespeare ist der vollkommene
Künstler, wie er der ganze Mann ist.

»Solch ein englischer Bursch mit rüstigem Körper, hellem Kopf,
heissem Blut und ewig vibrirender Phantasie, der Typus des jungen
Germanen, doch von feinster Race, ohne alle Ungeschlachtheit, getränkt
mit allen Menschen-, Lebens- und Natureindrücken, die man auf dem
Lande, in Dörfern und kleinen Städten, in Wald und Feld in sich saugt,
ist der Rohstoff, aus dem die Gestalt Shakespeare’s, des genialen Volks-
dichters, gebildet ist Der Ueberschuss ungebrauchter Geisteskraft,
der in ihm arbeitet, wirkt zunächst abenteuernd ins persönliche Leben,
so lange kein Gegenstand da ist, der die wilden, ziellosen Geistes-
kräfte an sich zieht, dass sie zum »Talent« zusammenschiessen, sich
als Talent erkennen Endlich gerieth er in London in’s Theater
Ein Mensch seines Schlages war gewiss schon daheim ein virtuoser
Menschencopirer gewesen Er erfasste die Menschen, die Eindruck
auf ihn machten, nicht mit dem Kopf allein, sondern mit dem ganzen,
von beweglichen Nerven durchzitterten Körper Er schrieb nun
etliche Theaterstücke in der Manier Marlowe’s oder Kyd’s Da be-
gegnete ihm ein grosses Erlebniss, das ihn und sein Dichten innerlich
umwandelte und über seine Zukunft entschied. Er lernte die Bildung
persönlich kennen, die Bildung grossen Styles Wie man ein Edel-
reis auf einen kräftigen Wildling pfropft, so wurde diese Bildung dem
jungen Shakespeare eingeimpft «

Und nun, nachdem uns Berger die grossen starken Persönlich-
keiten der Dichtkunst anschaulich vorgestellt hat, tritt er an
Dichter heran, welche noch halb oder gänzlich der Gegenwart ange-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 419, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0419.html)