Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 416
Text
»Und viele (die Wünsche) sind längst mit dem Weg vertraut
Zu des Todes schweigendem Hafen,
Die andern entflattern Schaar um Schaar,
Um in Menschenherzen zu schlagen «
Man kommt in lauter Schwelgen, wenn man hier zu citiren an-
fängt; der Kritiker verliert die Worte. Und Entwaffner sind ja alle
grossen Künstler. Darum weise ich mit zitterndem Finger noch auf
diese Strophe hin:
»Wir müssen, Geliebteste, leise
Hinschreiten, ich und du.
Es schläft eine Sangesweise
In Waldes nächtlicher Ruh’.
Verstummt sind Winde und Wellen
Und aller Singvöglein Mund,
Schweigend rinnen die Quellen
Blank über moosigen Grund.
Des Mondlichts stiller Reigen
Durchspielt das Buchengeheg’,
Es schlummert in süssem Schweigen
Ein silberner Streif am Weg.
Die Wolken selber droben
Schweben auf Flügeln breit
Und schaun’n von Glanz umwoben
In die Waldeseinsamkeit «
Und so ist dem deutschen Leser dieses Büchlein ein schöner
wehmuthsvoller Nachklang aus Jacobsen’s Dichten; man weilt bei diesen
Strophen mit den Gefühlen, als sässe man in einer stillen, mondbe-
schienenen Kirche, die Orgeltöne durchrauschen; in jener grossen
Kirche der Schönheit, die eine ferne Zukunft der Menschheit vielleicht
noch bringen wird.
»Licht übers Land,
Das war’s, was wir gewollt «
1884 hat Jacobsen dieses kleine Testament geschrieben, und ein
Jahr später schloss er die erschrockenen, wundervollen Augen, die so
früh den Tod sahen, ehe das Glück seine Hände auf sein müdes Haupt
gelegt.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 416, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0416.html)