Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 415

J. P. Jakobsen’s Lyrik (Menkes, Hermann)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 415

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J. P. JACOBSEN’S LYRIK. 415

gab und die sein Leben gewesen: den besonderen Styl. Bloss dass
seine Weltanschauung um eine Note tiefer klingt:

»In langen Jahren büssen wir
Für der Freude seligen Schimmer,
Man lächelt’s in flüchtiger Stunde hin
Und ach! verweint es nimmer.
Die Sorge rinnt, der Kummer rinnt aus rothen Rosen.«

Oder die Trauer um die zerstörte Schönheit des Griechenthums,
wo der Marmor nicht mehr leuchtet, wo der Capitäle üppige Pracht
verschwunden ist und die goldenen Schalen leer sind. Nur Thränen
hat Hebe, Bacchus nur Weinlaub, vor Alter zittert das lockenschwere
Haupt des Zeus, und auf der saitenlosen Leier stampfen der losge-
schirrten Pferde Hufe. Die Musen schlummern, die Grazien sind ge-
schieden — —

»Ueber die Säulen hinab, an ihnen festgewurzelt,
Laufen die Dornenranken,
Spielt das flimmernde Laub
Jener Pflanze, deren purpurgold’ne Rosen
Alle Frauen des Südens lieben
Viele Blüthen trägt sie
Und trägt sie stolz.
Doch eh’ der Tag noch recht herauf,
Ist ihr Blüthenreichtbum ausgetheilt
Aber der Lorbeer hat alle seine Blätter.«

Wildgewordene Prosa hat man den freien Rhythmus mit Unrecht
genannt, aber in den Gesängen Jacobsen’s ist viel von der herben,
plastischen Schönheit Thorwaldsen’s; er weiss reimlosen Worten eine
Melodie zu geben, die nur der Meister hat, dem sich die letzten Ge-
heimnisse der Sprache geoffenbart. Es sind Worte, die man einzeln
geniessen muss; sie haben die Schönheit junger Mädchen, die sich
ihres Zaubers noch nicht bewusst geworden. Und sie haben deren
Grazie; es ist kein Raffinement in ihnen. Man lese zum Beispiel das
Gedicht »Im Garten des Serails« oder die Plastik der folgenden
Strophe:

»Sie war wie Jasmins süss duftender Schnee,
Mohnblut floss in ihren Adern,
Die kalten, marmorweissen Hände
Ruhten ihr im Schoss
Wie Wasserlilien im tiefen See,
Ihre Worte fielen weich
Wie Apfelblüthenblätter
Auf das thaufeuchte Gras;
Aber Stunden gab’s,
Da wanden sie sich kalt und klar empor
Wie des Wassers steigende Strahlen.«

Man geniesse die beiden Landschaftsbilder, in denen die Fein-
heit unseres Storm liegt. Man vergisst sie nie — und nie ihre schmerz-
süsse Melodie.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 11, S. 415, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-11_n0415.html)