Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 482

Der Lehrer (Tschechoff, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 482

Text

DER LEHRER.
Novelle von Anton Tschechoff (Petersburg).
Uebersetzt von J. W.
I.

Man hörte das Stampfen von Pferdehufen auf Bretterboden;
zuerst wurde der Rappe »Graf Nulin« aus dem Stalle herausgeführt,
dann der weisse »Riese«, dann seine Schwester »Maika« Das waren
lauter vorzügliche, theuere Pferde. Der alte Schelestoff sattelte den
»Riesen« und sagte, indem er sich an seine Tochter Mascha wandte:
»Nun, Maria Godfrua, komm, setze dich. Hopp la!«

Mascha Schelestoff war die Allerjüngste in der Familie; sie war
schon 18 Jahre alt, man war aber in der Familie noch immer ge-
wohnt, sie als die Kleine zu betrachten, und darum wurde sie von
Allen Mania und Manioussia genannt, und nachdem sich einmal in der
Stadt ein Circus aufgehalten hatte, den sie eifrig besuchte, begann man
sie Maria Godfrua zu nennen.

»Hoppla!« rief sie aus, den »Riesen« besteigend.

Ihre Schwester Warja setzte sich auf »Maika«, Nikitin auf den
»Graf Nulin«, die Officiere auf ihre eigenen Pferde, und die lange, schöne
Cavalcade zog so im Schritt zum Hofe hinaus, während die weissen
Officiersröcke und die schwarzen Reitkleider bunt durcheinander
schimmerten.

Nikitin bemerkte, dass Manioussa, als man die Pferde bestieg,
und dann als man auf die Strasse hinausritt, aus irgend einem Grunde
nur ihn allein beachtete. Sie sah ihn und sein Thier besorgt an und
sagte: »Halten Sie die Zügel immer straff, Sergei Wassiliewitsch. Lassen
Sie ihn nicht scheu werden. Er stellt sich nur so.«

Und sei es, dass ihr »Riese« mit dem »Graf Nulin« sehr be-
freundet war, oder geschah es zufällig, Manioussia ritt, wie auch
gestern und vorgestern, die ganze Zeit neben Nikitin. Er sah ihren
kleinen, schlanken Körper auf dem weissen, stolzen Thiere, ihr feines
Profil, den Cylinder, der ihr gar nicht zu Gesichte stand und sie
älter machte, als sie war, sah es mit Freude, mit Rührung und Ent-
zücken, hörte ihr zu, verstand nur wenig davon und dachte:

»Ich gebe mir mein Ehrenwort, ich schwöre bei Gott, ich werde
nicht schüchtern sein und will mich ihr noch heute erklären «

Es war gegen sieben Uhr Abends, die Zeit, wo die weissen
Akazien und der Flieder so stark duften, dass die Luft und die
Bäume selbst vom eigenen Dufte zu erstarren scheinen. Schon spielte
im Stadtpark die Musik. Die Pferde stampften laut über das Pflaster;

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 482, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0482.html)