Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 488
Text
Dann erglänzten unter dem Shawl grosse, unbewegliche Augen,
ein liebes Profil zeichnete sich im Dunkel ab und Nikitin spürte den
Hauch von etwas Theuerem, längst Bekanntem, das ihn an Manioussia’s
kleine Mädchenstube erinnerte.
»Maria Godfrua,« sagte er und erkannte seine Stimme nicht
wieder: so weich und zärtlich war sie, »was für Sünden haben Sie?«
Manioussia kniff die Augen zusammen, zeigte ihm die Zungen-
spitze, lachte auf und ging fort. Im nächsten Augenblick stand sie
schon mitten im Zimmer, klatschte in die Hände und rief:
»Zu Tische, zu Tische, zu Tische!«
Und Alle drängten sich nach dem Speisezimmer.
Beim Nachtmahl debattirte Warja wieder, diesmal mit dem Vater.
Poljansky sprach den Speisen tüchtig zu, trank Rothwein und erzählte
Nikitin, wie er einst im Kriege eine ganze Winternacht hindurch bis
zu den Knien im Schmutze verbringen musste; der Feind war nah,
das Rauchen und Sprechen verboten, der Wind durchdringend, die
Nacht kalt und stockfinster Nikitin hörte zu und warf Seitenblicke
auf Manioussia. Sie sah ihn unverwandt, ohne zu blinzeln, an, als wäre
sie in Gedanken oder in Träume versunken Ihm war das angenehm
und doch auch peinlich.
»Warum schaut sie mich so an?« quälte er sich, »das ist un-
schicklich. Man wird es bemerken Ach, wie jung und naiv sie
noch ist!«
Gegen Mitternacht ging man auseinander. Als Nikitin zum Thor
hinausging, öffnete sich ein Fenster im zweiten Stock und Manioussia
erschien darin.
»Sergei Wassiliewitsch!« rief sie ihn an.
»Was denn?«
»Ich wollte Ihnen sagen « begann Manioussia, sichtbar nach
Worten suchend. »Ja Poljansky versprach, dieser Tage mit seinem
Apparat zu kommen und uns Alle zu photographiren. Man müsste sich
versammeln.«
»Gut.«
Manioussia verschwand, das Fenster wurde zugeschlagen, und
sofort begann Jemand im Hause Clavier zu spielen.
»Ist das ein Haus!« dachte Nikitin, als er quer über die Strasse
ging. »Ein Haus, wo höchstens die egyptischen Tauben stöhnen, aber
diese auch nur darum, weil sie ihre Freude nicht anders ausdrücken
können!«
Uebrigens war man nicht nur bei Schelestoff lustig. Nikitin war
kaum zweihundert Schritte gegangen, als er auch in einem anderen
Hause Clavier spielen hörte. Noch ein wenig weiter sah Nikitin an
einem Thore einen Bauer Balalaika1) spielen. Im Garten setzte das
Orchester mit einem Potpourri aus russischen Liedern ein.
1) Dreisaitige Zither.
(Schluss folgt.)
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 488, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0488.html)