Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 487

Der Lehrer (Tschechoff, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 487

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DER LEHRER. 487

rond, wobei Hauptmann Poljansky die Paare durch alle Zimmer
Promenade machen liess, dann tanzte man wieder Walzer.

Die Alten sassen während des Tanzes im Salon, rauchten und
sahen die Jugend an. Unter ihnen war auch Schebaldin, Director der
städtischen Creditanstalt, der wegen seiner Vorliebe für Literatur und
Theater bekannt war. Er gründete den »Musikalisch-dramatischen
Cercle« und nahm an den Vorstellungen selbst theil, wobei er
aus unbekannten Gründen nur komische Bedientenrollen gab. Man
nannte ihn in der Stadt eine Mumie, weil er sehr gross, sehr hager
und sehnig war, einen stets feierlichen Gesichtsausdruck und glanzlose,
unbewegliche Augen hatte.

Das Theater liebte er so sehr, dass er sogar Bart und Schnurr-
bart rasirte, was ihn einer Mumie noch ähnlicher machte.

Nach dem grand-rond kam er zögernd von der Seite auf Nikitin
zu, hüstelte und sagte:

»Ich hatte das Vergnügen, während Ihrer Debatte am Tische an-
wesend zu sein. Ich theile Ihre Meinung vollkommen. Wir sind Ver-
bündete, und es wäre mir sehr angenehm, mit Ihnen zu sprechen. Sie
haben doch die »Hamburger Dramaturgie« von Lessing gelesen?«

»Nein, ich habe sie nicht gelesen.«

Schebaldin war entsetzt und wehrte sogar mit den Händen ab,
als ob er sich die Finger verbrannt hätte, und wich zurück, ohne ein
Wort zu sagen. Zwar kamen Schebaldin’s Figur, seine Frage und sein
Erstaunen Nikitin komisch vor, doch gleichwohl dachte er:

»Es ist wirklich nicht recht. Ich bin Lehrer der Literaturgeschichte
und habe Lessing nicht gelesen. Na, ich werde es thun.«

Vor dem Nachtmahl setzten sich Alle, Jung und Alt, um »Schicksal«
zu spielen. Man nahm zwei Kartenspiele; eines wurde vertheilt, das
andere auf den Tisch gelegt.

»Wer diese Karte in den Händen hat,« begann der alte Schelestoff
feierlich, indem er die oberste Karte des zweiten Spieles nahm, »dessen
Schicksal ist — sofort ins Kinderzimmer zu gehen und die Njanja zu
küssen.«

Das Vergnügen, Njanja zu küssen, fiel Schebaldin zu.

Alle umringten ihn, führten ihn unter Lachen und Händeklatschen
ins Kinderzimmer und zwangen ihn, Njanja zu küssen.

»Nicht so leidenschaftlich,« schrie Schelestoff, vor Lachen weinend,
»nicht so leidenschaftlich!«

Nikitin’s Schicksal war, »Beichtvater« zu sein. Er setzte sich in
der Mitte des Zimmers auf einen Sessel.

Man brachte einen Shawl und bedeckte Nikitin ganz. Als erste
kam Warja zur Beichte.

»Ich kenne Ihre Sünden,« begann Nikitin und sah im Halbdunkel
ihr strenges Profil an, »sagen Sie mal, gnädigstes Fräulein, warum
spazieren Sie denn jeden Tag mit Poljansky? Ah, »nicht umsonst, nicht
umsonst geh’n Sie mit einem Husaren«!«

»Fauler Witz,« sagte Warja und ging fort.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 487, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0487.html)