Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 486

Der Lehrer (Tschechoff, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 486

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486 TSCHECHOFF.

mit Verlaub zu fragen? Sie haben zum Beispiel in der achten Classe
einen Aufsatz über das Thema »Pouschkin als Psychologe« aufgegeben.
Erstens darf man nicht so schwere Themata aufgeben, zweitens, was
ist der Pouschkin für ein Psychologe? Schtschedrin oder sagen wir
Dostojewsky — ja! — aber Pouschkin — nein! Das ist ein grosser
Poet, sonst nichts «

»Schtschedrin ist etwas und Pouschkin ist etwas,« antwortete
Nikitin mürrisch.

»Ich weiss, dass man Schtschedrin bei euch im Gymnasium nicht
anerkennt, aber davon spreche ich nicht. Sagen Sie mir nur, bitte, was
ist denn Pouschkin für ein Psychologe?«

»Nun, vielleicht nicht? Bitte, ich werde Ihnen Beispiele anführen.«

Nikitin declamirte einige Stellen aus »Onjagin«, dann aus »Boris
Godunow«.

»Ich sehe da keine Psychologie « seufzte Warja, »Psychologe
ist der, der die Regungen der menschlichen Seele darstellt; das aber
sind wunderschöne Verse, sonst nichts «

»Ich weiss, was für eine Psychologie Sie haben wollen,« sagte
Nikitin beleidigt, »Sie wollen, dass man mir mit einer stumpfen Säge
den Finger sägt, dass ich dabei aus vollem Halse schreie — das ist
dann nach Ihrer Meinung Psychologie.«

»Das ist ein fauler Witz! Aber warum Pouschkin Psychologe ist,
haben sie mir damit nicht bewiesen.«

Wenn Nikitin etwas zu bestreiten hatte, was ihm als Gemeinplatz,
Bornirtheit oder Aehnliches erschien, sprang er gewöhnlich vom Platze
auf, fasste sich mit beiden Händen am Kopf und begann stöhnend im
Zimmer umherzulaufen. Auch jetzt sprang er empor, griff nach der
Stirne und ging stöhnend um den Tisch herum, um sich abseits
zu setzen.

Die Officiere nahmen sich seiner an. Hauptmann Poljansky ver-
sicherte Warja, Pouschkin sei in der That ein Psychologe, und führte
zum Beweise zwei Verse Lermontoff’s an; Lieutenant Gernett sagte,
wenn Pouschkin nicht Psychologe wäre, so hätte man ihm in Moskau
kein Denkmal errichtet.

»Das ist eine Gemeinheit!« hörte man’s plötzlich vom anderen
Ende des Tisches her, »so hab’ ich es auch dem Gouverneur gesagt:
Excellenz, das ist eine Gemeinheit!«

»Ich streite nicht mehr!« rief Nikitin, »das wird ja kein Ende
nehmen! Basta!— Ah, so scheer’ dich zum Teufel, ekelhafter Hund!«
schrie er »Som« an, welcher ihm Kopf und Pfote auf die Knie
gelegt hatte.

»Rrr—nga—nga—rrrr!« klang es unter dem Sessel hervor.

»Gestehen Sie, dass Sie im Unrecht sind!« rief Warja, »ge-
stehen Sie’s!«

Es kamen Damen zu Besuch, und die Debatte hörte auf. Alle
begaben sich in den Salon. Warja setzte sich ans Clavier und spielte
Tänze. Man tanzte Walzer, dann Polka, dann eine Quadrille mit grand-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 486, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0486.html)