Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 485
Text
Dann setzte sie sich unter den Sessel. Wenn man sie von dort
verjagen wollte, fing sie schrill zu bellen an, und die Gastgeber
sagten:
»Fürchten Sie sich nicht, »Mouschko« beisst nicht Sie ist ein
gutes Thierchen «
»Som« war ein riesengrosser schwarzer Hund mit langen Beinen
und einem Schwanz, der hart wie ein Stock war. Bei Mittag und beim
Abendthee ging er gewöhnlich stillschweigend unter dem Tisch spazieren
und klopfte mit dem Schweif über die Stiefel und Füsse des Tisches.
Er war ein guter, dummer Köter, aber Nikitin konnte ihn wegen seiner
Gewohnheit, die Schnauze den Speisenden auf die Knie zu legen und
die Hosen mit dem Speichel zu beschmutzen, nicht leiden. Nikitin
hatte schon mehr als einmal versucht, mit dem Messergriff auf seine
grosse Stirn zu schlagen, ihm Nasenstüber zu geben; er schimpfte und
beklagte sich, aber nichts rettete seine Beinkleider vor Flecken.
Nach dem Spazierritt schmeckte Allen Thee, Eingesottenes, Zwie-
back und Butter ausserordentlich gut. Das erste Glas Thee trank Jeder
schweigend, mit grossem Appetit, vor dem zweiten begann man zu
streiten. Die Debatten bei Tische wurden immer von Warja provocirt.
Sie war schon 23 Jahre alt, hübsch, schöner als Manioussia, galt für
die Klügste und Gebildetste im Hause und benahm sich würdevoll und
streng, wie es sich einer älteren Tochter ziemt, die im Hause den
Platz der verstorbenen Mutter einnimmt. Als Hausfrau ging sie vor
Gästen in einer Blouse herum, nannte die Officiere beim Familiennamen,
betrachtete Manioussia als ein kleines Mädchen und sprach zu ihr im
Tone einer Classenaufseherin. Da sie sich eine alte Jungfer nannte, war
sie überzeugt, bald zu heiraten.
Jedes Gespräch, selbst vom Wetter, verwandelte sie in eine
Debatte. Sie hatte die Leidenschaft, Jeden beim Wort zu nehmen,
Widerspruch zu entdecken, an jedem Satz etwas zu bemäkeln. Sobald
man mit ihr über etwas zu reden begann, sah sie einen scharf an und
unterbrach plötzlich:
»Erlauben Sie mal, erlauben Sie, Petroff: vorgestern sagten Sie
etwas ganz Anderes!«
Oder sie lächelte ironisch und sagte: »Ich bemerke eben, Sie be-
ginnen die Principien der »dritten Abtheilung« zu predigen Ich
gratulire.«
Wenn man einen Witz oder einen Kalauer machte, hörte man
sofort ihre Stimme: »Das ist alt!« oder »Das ist banal!« War ein
Officier der Thäter, so schnitt sie eine verächtliche Grimasse und knarrte:
»Militärrrwitz!«
Dieses »rrr« kam so eindringlich heraus, dass »Mouschko« unter
dem Sessel erwiderte: »Rrrngarr.«
Diesmal entspann sich die Debatte, als Nikitin von den Gymnasial-
prüfungen zu sprechen begann.
»Erlauben Sie, Sergei Wassiliewitsch,« unterbrach ihn Warja, »Sie
sagen, die Schüler haben es schwer Und wer ist daran schuld,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 485, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0485.html)