Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 484

Der Lehrer (Tschechoff, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 484

Text

484 TSCHECHOFF.

»Wirklich?« verwunderte sich der Doctor, »so jung und unter-
richten schon?«

»Wieso denn jung? 26 Jahre Gott sei Dank!«

»Sie haben zwar einen Bart, doch könnte man Ihnen nicht mehr
als 22—23 Jahre geben. Wie jugendlich Sie aussehen!«

»Zum Teufel noch einmal!« dachte Nikitin, »auch der hält mich
für einen grünen Jungen!«

Er hörte es sehr ungern, wenn man von seiner Jugend sprach,
besonders in Anwesenheit von Damen oder Gymnasiasten. Seitdem er
in diese Stadt gekommen war und seinen Posten angetreten hatte,
begann er dieses jugendliche Aussehn zu hassen. Die Gymnasiasten
fürchteten ihn nicht, die Alten nannten ihn »junger Mann«, die Damen
zogen es vor, mit ihm zu tanzen, als seine langen Betrachtungen anzuhören.
Er hätte viel darum gegeben, jetzt um zehn Jahre älter zu sein.

Aus dem Garten ritt man weiter zur Meierei der Schelestoff.
Hier machte man vor dem Thore Halt, liess die Verwaltersfrau
Praskowja rufen und verlangte frisch gemolkene Milch. Die Milch trank
Niemand, Alle schauten einander an, lachten und kehrten um. Als sie
nach Hause ritten, spielte im Garten die Musik, die Sonne war schon
hinter dem Friedhof untergegangen und die Hälfte des Himmels in
Purpur getaucht.

Manioussia ritt wieder neben Nikitin Er wollte davon sprechen,
wie heiss er sie liebe, aber er fürchtete, die Officiere und Warja
könnten ihn hören, und schwieg. Manioussia schwieg ebenfalls, und er
ahnte, warum sie jetzt stumm an seiner Seite ritt, und war so glück-
lich, dass die Erde, der Himmel, die Stadtlichter, der Umriss der Bier-
brauerei, dass Alles das in seinen Augen in etwas Wunderbares und
Zärtliches verschmolz, und dass es ihm schien, sein »Graf Nulin« reite
in die Luft und wolle den Himmel erklimmen.

Man kam nach Hause Auf dem Tische im Garten kochte
schon der Samovar, und an dem einen Ende sass mit seinen Collegen,
Beamten vom Landesgericht, der alte Schelestoff und zog wie gewöhnlich
gegen etwas los.

»Das ist eine Gemeinheit!« sagte er. »Eine Gemeinheit, sonst
nichts. Jawohl, eine Gemeinheit.«

Seitdem Nikitin in Manioussia verliebt war, gefiel ihm bei Schele-
stoff Alles: das Haus, der Garten, der Abendthee, die geflochtenen
Strohsessel, die alte Kinderfrau Njanja, selbst das Wort »Gemeinheit«,
das der Alte so oft gebrauchte. Nur die zahllosen Katzen und Hunde
und auch die egyptischen Tauben, die in einem grossen Bauer auf der
Veranda wehmüthig stöhnten, behagten ihm nicht. Es gab hier so viele
Hof- und Zimmerhunde, dass Nikitin während der Zeit seiner Bekannt-
schaft mit Schelestoff bloss zwei erkennen lernte: »Mouschka« und
»Som«. »Mouschka« war eine kleine, haarende, boshafte und ver-
wöhnte Hündin mit zottiger Schnauze. Sie konnte Nikitin nicht
vertragen; jedesmal, wenn sie ihn sah, neigte sie den Kopf zur Seite,
fletschte die Zähne und begann zu knurren.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 484, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0484.html)