Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 490
Text
von Anatole France1) (Paris).
Gestas, dixt li Signor, entrez en paradis.
»Gestas, dans nos anciens mystères
c’est le nom du larron crucifié
à la droite de Jésus-Christ.«
(Augustin Thierry, la Rédemption de Larmor.)
Es geht die Mär, es lebe in unseren Tagen ein schlechter Kerl,
Gestas genannt, der macht die süssesten Lieder der Welt. In seinem
plattnasigen Gesicht war geschrieben, dass er ein Sünder des Fleisches
sein werde. Kommt der Abend, so leuchten in seinen grünlichen Augen
die schlechten Lüste. Er ist kein Knabe mehr. Die Knollen an seinem
Schädel haben Kupferglanz angenommen, graugrüne Strähne hängen ihm
in den Nacken. Und doch ist er harmlos und hat sich den Kinder-
glauben bewahrt. Ist er nicht im Spital, so haust er in irgend einer
Gasthofkammer zwischen Pantheon und botanischem Garten.
Hier, im alten armen Viertel, grüsst ihn jeder Stein, die finsteren
Gässchen nehmen ihn liebreich auf; eines dieser Gässchen ist so recht
nach seinem Herzen; denn gesäumt von Schenken und Spelunken, hat
es im Winkel eines Hauses hinter Gitterstäben eine Mutter Gottes in
blauer Nische. Abends pilgert er von Wirthschaft zu Wirthschaft und
hält seine Bier- und Branntweinstationen in einer ganz bestimmten
Ordnung: die grosse Arbeit der Ausschweifung verlangt Methode und
Regelmässigkeit.
In vorgerückter Nachtstunde kehrt er in sein Loch zurück, ohne
recht zu wissen wie, und durch ein täglich sich wiederholendes Wunder
findet er sein Gurtbett wieder, auf das er angekleidet hinfällt. Dort
schläft er mit geballten Fäusten den Schlaf der Landstreicher und der
Kinder.
Aber dieser Schlaf ist kurz.
Kaum erhellt der Morgen die Fenster und schleudert seine
leuchtenden Pfeile durch die Vorhänge der Kammer, so öffnet Gestas
die Augen, erhebt sich, schüttelt sich wie ein herrenloser Hund, den
ein Fusstritt erweckt, steigt die langgewundene Stiege eiligst hinab
und begrüsst mit Wonne die Strasse, die gute Strasse, die gegen die
Laster der Armen und Niedrigen so milde ist.
Mit halbgeschlossenen Lidern blinzelt er den feinen Strahlen des
Tages entgegen, seine Silens-Nüstern blähen sich in der Morgenluft.
Stämmig und aufrecht, das Bein von seiner alten Gicht steif noch,
schreitet er aus und stützt sich auf seinen Hartriegelstock, dessen
1) Unsere Leser werden wohl sofort erkennen, dass Anatole France in
Gestas — Paul Verlaine zu zeichnen suchte.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 490, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0490.html)