Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 491

Gestas (France, Anatole)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 491

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GESTAS. 491

Zwinge er in zwanzigjährigem Herumstreichen abgenützt hat. Denn
Stock und Pfeife hat er bei seinen nächtlichen Abenteuern nie ver-
loren. Jetzt sieht er sehr gut und sehr glücklich aus. Und er ist es
auch wirklich. Seine grösste, mit seinem Schlaf erkaufte Freude be-
steht darin, Frühmorgens mit den Arbeitern in den Schenken den Weiss-
wein zu trinken. Der lichte Wein, bei blassem Tagesgrauen, unter den
weissen Kitteln der Maurer, das sind die arglosen Freuden, die seine
Seele liebt, seine Seele, die im Laster kindlich blieb.

Nun geschah’s, dass Gestas eines Frühjahrsmorgens von seiner
Schlafstätte zum »kleinen Mohren« wandelte und in der angenehmsten
Erwartung die Schwelle betrat, über der ein Blechschild mit einem
Sarazenkopf angebracht war. Er schritt auf den zinnernen Schanktisch
zu, an dem er eine Gesellschaft vorfand, die ihm nicht bekannt war.
Es war ein ganzer Trupp von Arbeitern aus der Loiregegend, die
mit den Gläsern anstiessen, wenn sie von ihrer Heimat sprachen, und
Züge thaten wie die zwölf Edlen Carls des Grossen.

Sie tranken und assen Brotrinde dazu; hatte Einer einen guten
Einfall, so lachte er recht kräftig darüber und puffte die Genossen in
den Rücken, damit sie seinen Witz besser verstünden. Und die Freunde
tranken schweigend weiter.

Nachdem all die Männer in die Arbeit gegangen, verliess Gestas
als Letzter den »kleinen Mohren« und begab sich in den »schönen Apfel«,
dessen lanzengekrönte Gitterthüre ihm wohlbekannt war.

Dort trank er wieder in guter Gesellschaft und bot sogar zwei
Schutzleuten, misstrauischen, sanftmüthigen Männern, ein Glas an.

Dann kehrte er in einer dritten Schenke ein, deren alterthüm-
liches schmiedeisernes Schild zwei kleine Männer darstellte, die eine
riesige Weintraube tragen. Dort wurde er von der schönen Frau
Trubert bedient, die wegen ihrer Sittsamkeit, Energie und ihres Froh-
sinns im ganzen Viertel gepriesen war.

Dann ging es weiter, in die Nähe der Festungswerke, zu den
Branntweinbrennern, wo man im Schatten die Kupferhähne der Fässer
leuchten sieht, dann zu den kleinen Krämern, deren Fenster immer
geschlossen bleiben.

Hernach wanderte er in die belebten Viertel zurück und liess
sich in verschiedenen Kaffeehäusern Wermuth und Bitteren geben. Es
schlug acht Uhr. Sein Gang war sehr aufrecht, gleichmässig, steif und
feierlich; er wunderte sich, wenn Frauen, die barhäuptig, die Haare
im Nacken zusammengedreht, zum Einkauf gingen, ihn mit ihren
schweren Körben zum Wanken brachten, oder wenn er, ohne zu wollen,
an ein kleines Mädchen stiess, die mit ihren Armen einen Riesenbrot-
laib umklammerte. Manchmal, wenn er über die Strasse schritt, ge-
schah es auch, dass ein Milchwagen, auf dem die Blechkannen surrend
schwankten, so dicht neben ihm hielt, dass er auf seiner Wange den
heissen Athem des Pferdes verspürte. Doch ohne Eile schritt er weiter,
unbekümmert um die verächtlichen Flüche des groben Milchmeiers.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 491, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0491.html)