Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 492

Gestas (France, Anatole)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 492

Text

492 FRANCE.

Sein von seinem Hartriegelstock unterstützter Gang war stolz und ruhig.
Doch innerlich schwankte der alte Knabe.

Von seinem morgendlichen Jubel blieb ihm nichts mehr. Die
Schwalbe, die ihre frohen Triller in ihm geschmettert hatte, war nach
den ersten Tropfen des bleichen Weines mit schnellem Flügelschlag
davongezogen, und seine Seele war jetzt ein düsteres Krähengeniste, in
dem auf schwärzlichen Bäumen die Raben krächzen. Er war zu Tode
traurig. Ein grosser Ekel vor sich selbst durchschüttelte ihn. Die
Stimme seiner Reue und seiner Scham schrie ihm zu: »Thier, Thier!
Du bist ein Thier!« Und er bewunderte diese erzürnte, reine Stimme,
diese schöne Engelsstimme, die ihm so geheimnissvoll innewohnte und
die fortwährend schrie: »Thier, Thier! Du bist ein Thier!« Ein unend-
liches Sehnen nach Unschuld und Reinheit überkam ihn. Er weinte,
grosse Thränen tropften über seinen Ziegenbart. Er weinte über sich
selbst. Gehorsam dem Worte des Herrn, der gesagt hat: »Weint über
euch und eure Kinder, Töchter Jerusalems,« spendete er den bitteren
Thau seiner Augen über sein von den sieben Todsünden geschändetes
Fleisch, über seine unzüchtigen Träume, die die Trunksucht geboren.

Der Glaube seiner Kinderjahre belebte sich wieder, entfaltete
sich frisch und blühend. Von seinen Lippen flossen kindliche Gebete.
Er sagte ganz leise: »Lieber Gott, lass’ mich wieder das kleine Kind
werden, das ich war.«

Im Augenblicke, als er diese schlichte Bitte that, befand er sich
an der Vorhalle einer Kirche.

Es war eine alte, in ihrem steinernen Spitzenschmucke, den Zeit
und Menschen zertrümmert hatten, einst lichte und schöne Kirche.
Jetzt ist sie dunkel geworden wie Sulamit und ihre Schönheit spricht
nur mehr zum Herzen der Dichter. Es war eine Kirche, ärmlich, »aus
alter Zeit«, wie die Mutter von François Villon, die einst vielleicht
hier betete und auf den heute weissgetünchten Mauern jenes Paradies
erschaute, aus dem sie die Harfen klingen zu hören vermeinte, und
jene Hölle sah, in der die Verdammten schmorten. Gestas trat in das
Gotteshaus. Er erblickte Niemand, nicht einmal Jemand, der das Weih-
wasser reicht, nicht einmal eine arme Frau, wie die Mutter von
François Villon. Nur die Stühle, die im Schiff in guter Ordnung auf-
gestellt waren, zeugten vom Pflichteifer der Pfarrkinder und schienen
das gemeinsame Gebet fortzusetzen.

Im feuchten, kühlen Schatten, der sich vom Gewölbe herabsenkte,
wandte sich Gestas nach rechts gegen das Seitenschiff in der Nähe
der Vorhalle, wo vor der Bildsäule der Muttergottes ein Eisengestell
seine Spitzen wies, auf denen noch keine geweihte Kerze brannte. Da,
in der Betrachtung des weiss-, blau- und rosafarbigen Bildnisses, das
ihm umringt von kleinen goldenen und silbernen Votivherzen entgegen-
lächelte, beugte er sein altes, steifes Bein, weinte die Thränen des
heiligen Petrus und hauchte sanfte, unzusammenhängende Worte:
»Süsse Muttergottes — meine Mutter — Maria — Maria — dein
Kind — dein Kind — Mütterlein!«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 492, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0492.html)