Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 493

Gestas (France, Anatole)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 493

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GESTAS. 493

Aber sehr schnell erhob er sich wieder; nach einigen raschen
Schritten blieb er vor einem eichenen, von der Zeit gebräunten Beicht-
stuhl stehen, der das ehrliche, trauliche, heimliche Aussehen eines
alten Wäscheschrankes hatte. Religiöse Embleme schmückten die Felder
und liessen die Bürgerinnen der alten Zeit wieder lebendig werden,
die zum Gebet hieher gepilgert waren, ihre mit reichen Spitzenborten
geschmückten Hauben senkten und ihre wirthschaftlichen Seelen in
diesem symbolischen Betesda wuschen. Wo sie gekniet hatten, kniete
Gestas nieder, die Lippen am Holzgitter, rief er mit leiser Stimme:

»Mein Vater, mein Vater!«

Als auf seinen Ruf Niemand Antwort gab, klopfte er leise an
das Schiebfensterchen.

»Mein Vater, mein Vater!«

Er wischte sich die Augen aus, um besser durch die Löcher des
Gitters zu sehen, und glaubte im Dunkel das weisse Chorhemd eines
Priesters zu erkennen.

Er wiederholte:

»Mein Vater, mein Vater, so hören Sie mich doch! Ich muss
meine Seele waschen; sie ist schwarz und schmutzig, sie ekelt mich an,
es wird mir schlecht vor ihr! Schnell, mein Vater, das Bad der Busse,
das Bad der Verzeihung, das Bad Jesus! Mir ekelt vor meiner Un-
sittlichkeit. Das Bad, das Bad!«

Dann wartete er. Manchmal glaubte er, aus dem Hintergrunde
des Beichtstuhles eine Hand winken zu sehen, dann wieder konnte er
in der Zelle nur den leeren Stuhl entdecken. So wartete er lange,
unbeweglich, die Knie an die Holzstaffel gepresst, den Blick an das
Schiebfensterchen gebannt, von wo ihm Alles werden sollte, die Ver-
zeihung, der Friede, die Labung, das Heil, die Unschuld, die Versöhnung
mit Gott und mit sich selbst, die himmlische Freude, die Zufriedenheit
in der Liebe, das höchste Glück. In Zwischenräumen murmelte er seine
schmeichelnden, inständigen Bitten.

»Herr Pfarrer, mein Vater, Herr Pfarrer! Mich dürstet, geben Sie
mir zu trinken, mich dürstet so sehr! Lieber Herr Pfarrer, geben Sie
mir, was Sie haben, klares Wasser, ein weisses Kleid und Flügel für
meine arme Seele. Geben Sie mir Busse und Versöhnung.«

Als er keine Antwort erhielt, klopfte er stärker an das Gitter
und rief:

»Beichten, bitte!«

Endlich verlor er die Geduld, erhob sich, führte mit seinem Hart-
riegelstocke starke Schläge an die Wände des Beichtstuhles und brüllte:

»Heda, Pfarrer! Heda, Vicar!«

Und im Rufen schlug er immer stärker drauf los, die Schläge
fielen wüthend auf den Beichtstuhl, aus dem Staubwolken aufstiegen
und der auf diese Angriffe mit dem Gestöhne seiner alten, wurm-
stichigen Bretter erwiderte.

Der Kirchendiener, der die Sacristei kehrte, eilte bei dem Lärm
mit aufgestülpten Aermeln herbei. Als er den Mann mit dem Stock

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 493, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0493.html)