Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 494
Text
erblickte, hielt er einen Augenblick inne, dann näherte er sich mit der
langsamen Vorsicht des im Dienste der demüthigsten Polizei ergrauten
Dieners. In Hörweite angelangt, fragte er:
»Was wollen Sie?«
»Ich will beichten.«
»Um diese Stunde beichtet man nicht.«
»Ich will beichten.«
»Schau’n Sie, dass Sie weiter kommen!«
»Ich will den Pfarrer sprechen.«
»Wozu?«
»Um zu beichten.«
»Der Pfarrer ist nicht zu sprechen.«
»Also den ersten Vicar.«
»Ist auch nicht zu sprechen. Schau’n Sie, dass sie weiter kommen!«
»Den zweiten Vicar, den dritten Vicar, den vierten Vicar, den
letzten Vicar.«
»Schaun’n Sie, dass Sie weiter kommen!«
»Oh ho! Will man mich ohne Beichte sterben lassen? Das ist
ja ärger als im Jahre dreiundneunzig! Einen ganz kleinen Vicar.
Was geht es Sie an, wenn ich einem ganz kleinen Vicar beichte, einem
ganz kleinen Vicar, der mir bis an die Schulter reicht. Ruft einen
Priester herbei, dass er mir die Beichte abnehme. Ich will ihm Sünden
erzählen, die seltener, aussergewöhnlicher, interessanter sind als alle
jene, die ihm seine Dummköpfe von Beichtkindern herunterleiern mögen.
Sie können ihn aufmerksam machen, dass man ihn zu einer feinen
Beichte braucht.«
»Schau’n Sie, dass Sie weiter kommen!«
»Aber hörst du nicht, alter Barrabas? Ich sage dir, dass ich mich
mit dem lieben Gott versöhnen will, Kreuzsapperment!«
Obwohl er nicht die majestätische Statur des Kirchendieners seines
reichen Sprengels hatte, war dieser Portier doch kräftig. Er nahm
unseren Gestas beim Kragen und warf ihn hinaus.
Gestas, so auf die Strasse gelangt, hatte nur einen Gedanken:
durch eine Seitenthüre wieder in die Kirche zu gelangen, um den
Kirchendiener hinterrücks zu überraschen und Hand an einen kleinen
Vicar zu legen, der einwilligen würde, ihm die Beichte abzunehmen.
Zum Unglück für das Gelingen dieses Planes war die Kirche von alten
Häusern umgeben, und Gestas verlor sich hoffnungslos in einem un-
entwirrbaren Labyrinth von Strassen, Gassen und Gässchen. Dort fand
sich eine Weinstube, wo sich das arme Beichtkind beim Absinth nun trösten
konnte. Es gelang ihm. Aber bald erwuchs ihm eine neue Reue. Und
das ist es, was seinen Freunden die Hoffnung verleiht, dass er gerettet
werden wird. Er hat den schlichten, starken Kinderglauben. Es fehlen
ihm nur noch die Werke. Doch muss man nicht an ihm verzweifeln,
da er selbst es auch nicht thut. Gestas, dixt li Signor, entrez en paradis.
V. R.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 494, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0494.html)