Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 496
Text
Von Oscar Wilde (London).
Deutsch von G. Adam.
Ein Kunstwerk ist das originelle Product eines originellen Cha-
rakters. Seine Schönheit entspriesst aus dem Umstande, dass der
Künstler ist, was er ist. Sie hat mit den Wünschen Anderer nichts zu
thun. Denn sobald ein Künstler sich um die Wünsche Anderer kümmert
und ihrem Verlangen Folge leisten will, hört er auf, Künstler zu sein,
und wird, je nachdem, ein langweiliger oder unterhaltender Handwerker,
ein ehrlicher oder unehrlicher Krämer; er kann keinen Anspruch darauf
erheben, dass man ihn einen Künstler nennt. Kunst ist die ausgeprägteste
Form des Individualismus, die es gibt. Und ich möchte behaupten, es
ist die einzig wahrhafte Form des Individualismus, die es je gegeben
hat. Das Verbrechen, welches unter gewissen Bedingungen den Schein
des Individualismus trägt, muss sich nach Anderen richten und ist ab-
hängig von ihnen. Der Künstler dagegen kann von seinem Eigen allein,
unbekümmert um seine Umgebung, in völliger Unabhängigkeit ein
schönes Gebilde schaffen; und wenn er dies nicht ausschliesslich zu
eigenem Wohlgefallen thut, so ist er überhaupt kein Künstler.
Die Thatsache nun, dass die Kunst diese ausgesprochene Form
des Individualismus ist, führt das Publicum dazu, eine Autorität über
sie ausüben zu wollen, welche ebenso unmoralisch wie lächerlich, ebenso
verderblich wie verächtlich ist. Dem Publicum ist dafür nicht die volle
Verantwortung beizumessen. Stets und zu allen Zeiten hat es eine
mangelhafte Bildung besessen. Fort und fort stellt es das Verlangen,
die Künstler sollen volksthümlich, seinem rohen Geschmacke gefällig
sein, seiner thörichten Eitelkeit schmeicheln, ihm erzählen, was ihm vor
Zeiten schon erzählt worden, ihm zeigen, wessen sein Auge schon
überdrüssig sein sollte, es unterhalten, wenn es sich zu satt getafelt,
seine Gedanken zerstreuen, wenn es des eigenen Stumpfsinns müde
geworden. Allein die Kunst sollte niemals darnach streben,
volksthümlich zu sein. Das Publicum sollte suchen, sich
selbst künstlerisch zu bilden. Dazwischen liegt eine gewaltige
Kluft.
Wollte man einem Manne der Wissenschaft sagen, dass die Ergeb-
nisse seiner Versuche, die Schlüsse, zu denen er gelangt, derart sein
müssen, dass sie mit dem gewöhnlich anerkannten Wissen nicht in
Widerspruch gerathen, keine Vorurtheile der Menge zerstören, nicht die
Gefühle derer, welche nichts von Wissenschaft verstehen; wollte man
einem Philosophen sagen, er habe das unbeschränkte Recht, sein
grübelndes Sinnen in die höchsten Sphären des Geistes zu führen, vor-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 496, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0496.html)