Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 497
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ausgesetzt, dass er zu denselben Schlüssen gelange, welche die Aner-
kennung derer besitzen, die überhaupt niemals gedacht haben — nun,
so würden heutzutage der Mann der Wissenschaft und der Philosoph sich
eines Lächelns nicht erwehren können. Doch liegt die Zeit noch nicht
gar fern, da Philosophie und Wissenschaft sich einer brutalen, volks-
thümlichen Controle entrangen, einer Autorität — sei es der Autorität
der Massenunwissenheit der Gesellschaft oder des Terrorismus und der
Herrschsucht der Kirche wie der herrschenden Classen. Gewiss haben
wir uns von jedem Versuche der Gesellschaft, Regierung oder Kirche,
auf den Individualismus des speculativen Denkens bestimmend zu
wirken, befreit, aber auf dem Gebiete der Kunst tritt uns dies Streben
immer noch entgegen, tritt uns entgegen mit herausfordernder und be-
leidigender Brutalität.
Das günstigste Schicksal wird den Künsten, an
denen das Publicum kein Interesse hat. Ein Beispiel bietet
die Poesie. Ist es einer Nation vergönnt, eine schöne Poesie zu be-
sitzen, so liegt das daran, dass das Publicum sie nicht liest und folg-
lich nicht beeinflusst. Das Publicum beleidigt besonders gerne die
Dichter; denn sie sind ausgeprägte Persönlichkeiten; aber wenn es sie
einmal beleidigt hat, lässt es sie dann in Ruhe. Was den Roman und
das Drama angeht, Kunstformen, an denen das Publicum Antheil nimmt,
so ist das Ergebniss der Volksautorität ein durchaus lächerliches. Und
es muss das nothwendigerweise sein. Das Niveau der Menge ist derart,
dass kein Künstler sich auf gleiche Stufe damit stellen kann. Es ist zu
leicht und doch zu schwer zugleich, volksthümlicher Romancier zu sein.
Es ist zu leicht: denn was das Publicum an Stoff und Form, an
Seelen- und Lebensschilderung, an Behandlung der Sprache verlangt,
liegt im Bereich der geringsten Fähigkeiten und der bescheidensten
geistigen Anlagen; es ist zu schwer, denn um diesen Anforderungen
zu genügen, müsste der Künstler seinem Temperament Gewalt anthun,
nicht um der künstlerischen Freude des Schaffens willen, sondern zur
Unterhaltung einer halbgebildeten Menge schreiben und so seinen Indi-
vidualismus unterdrücken, seine Bildung vergessen, seinen Styl opfern
und Alles verrathen, was an ihm werthvoll ist.
Das grösste Missfallen beim Publicum erregt das Neue. Jeder
Versuch, das Gebiet der Kunst zu erweitern, ist ihm höchst missliebig;
und doch hängen Lebenskraft und Fortschritt der Kunst in hohem
Masse von der beständigen Ausdehnung ihres Gebietes ab. Dem Publicum
missfällt das Neue, weil es davor erschrickt. Es stellt für das Volk eine
Art Individualismus dar, eine Erklärung seitens des Künstlers, dass er
sich sein eigenes Thema wählt und es behandelt, wie es ihm gefällt.
Das Publicum hat in seiner Haltung vollkommen Recht. Die Kunst ist
Individualismus, und Individualismus ist eine Kraft, welche hemmend
und trennend wirkt. Und darin liegt sein ungeheuerer Werth. Denn
was er zu hemmen, zu stürzen sucht, das ist Einförmigkeit, knechtische
Gewöhnung, Tyrannei des Brauches und die Erniedrigung des Menschen
zu einer Maschine. In der Kunst nimmt das Publicum die Erzeugnisse
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 497, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0497.html)