Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 498

Künstler und Publicum (Wilde, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 498

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498 WILDE.

der Vergangenheit an, weil es nichts mehr daran ändern kann, nicht
weil es sie schätzt. Es verschlingt seine Classiker, ohne auf den Ge-
schmack zu kommen. Es duldet sie als etwas Unvermeidliches, und da
es sie nicht aus der Welt schaffen kann, so verfolgt es sie mit seinem
Lobe. Sonderbarer- oder auch nicht sonderbarerweise richtet seine An-
erkennung erheblichen Schaden an. Thatsächlich benützt das
Publicum die Classiker seines Landes
, um den Fort-
schritt der Kunst zu hemmen. Es würdigt die Classiker zu
Autoritäten herab. Es bedient sich ihrer als Knüttel, mit dem es den
freien Ausdruck der Schönheit in neuen Formen zu Boden schlägt.
Stets wirft es dem Schriftsteller vor, warum er nicht schreibt wie irgend
ein Anderer, dem Maler, warum er nicht malt wie Andere, und
vergisst dabei ganz, dass Jene aufhören würden, Künstler zu sein,
wenn sie etwas derartiges begingen. Eine neue Art der Schönheit ist
ihm zuwider, und wenn sie je erscheint, wird es so grimmig und
verliert die Fassung so, dass es immer nur zwei alberne Ausdrücke
zur Hand hat: das Kunstwerk ist ganz unverständlich, oder: es
ist ganz unmoralisch. Was es mit diesen Worten meint, scheint mir
Folgendes: Wenn es sagt, ein Werk sei ganz unverständlich, so meint
es damit, dass der Künstler irgend etwas Schönes gesagt oder ge-
schaffen, das neu ist; bezeichnet es ein Werk als völlig unmoralisch,
so meint es damit, dass der Künstler irgend etwas Schönes gesagt oder
geschaffen, das wahr ist. Der erste Ausdruck bezieht sich auf die
Form, der zweite auf den Inhalt. Aber gewiss benützt es die Worte,
ohne Wahl und lange Ueberlegung, wie sich ein Pöbelhaufe in der
Gasse bereitliegender Pflastersteine bedient. Es gibt keinen einzigen
Romancier oder Dichter dieses Jahrhunderts
, dem das
Publicum nicht feierlichst das Zeugniss der Immoralität
ausgestellt hätte
. Dadurch lässt sich ein Künstler natürlich nicht
beirren. Der wahre Künstler ist ein Mensch, der durchaus an sich
glaubt, weil er durchaus er selbst ist. Und ich kann mir wohl vor-
stellen, dass sich ein Künstler, wenn er ein Werk schuf, das vom
Publicum sogleich nach seinem Erscheinen durch sein Medium, die
Presse, als ganz verständlich und hoch moralisch gewerthet wurde, dass
er sich ernstlich dann die Frage stellt, ob er in seinem Werke wirklich
nur er selbst gewesen, ob also das Werk nicht seiner ganz unwürdig
und entweder niederer Art oder überhaupt ohne jeden künstlerischen
Werth sei.

Im Ganzen gewinnt der Künstler dadurch, dass er angegriffen
wird. Sein Individualismus wird gestärkt. Er wird in vollkommenerem
Masse er selbst. Allerdings sind die Angriffe oft äusserst grob, verächtlich,
unverschämt. Doch ist es billig, zu erwähnen, dass die modernen Jour-
nalisten sich privatim stets für das entschuldigen, was sie öffentlich gegen
einen schrieben.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 498, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0498.html)