Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 499
Das kriegerische Genie (Ferrero, Guglielmo, Prof.)
Text
Von Prof. Guglielmo Ferrero (Turin).
Aus dem Manuscript übersetzt von Otto Eisenschitz.
Wir sind gewohnt, die grossen Eroberer als die Verkörperungen
der glücklichen und siegreichen Grausamkeit zu betrachten; das ist
aber eine Illusion, denn alle jene Eroberer sind gewaltthätige Melan-
choliker gewesen, ruhmsüchtige Misanthropen, die von einer fort-
währenden Reizbarkeit und Ungenügsamkeit gequält waren, unfähig,
sich für andere Dinge zu interessiren, die ihrem Ehrgeiz nicht ge-
nügen, und in Folge dessen unausgesetzt gepeinigt durch eine entsetz-
liche Langweile und durch ein unbefriedigtes Bedürfniss nach Er-
regungen.
All jene, die eine lebhafte Leidenschaft für den Krieg gehabt
und ihn mit Leidenschaft gesucht, mehr noch jene, die ihn mit
Vorbedacht heraufbeschworen haben zu ihrer eigenen Genugthuung
und ohne Rücksicht auf die Leiden, die der Krieg ihren Mitmenschen
verursachte, sind unglückliche Männer gewesen, die von einer unauf-
hörlichen Schwermuth gequält waren, selbst dann, wenn ihre Gewalt-
thätigkeiten scheinbar durch alle vergänglichen Armseligkeiten belohnt
wurden, in denen der Mensch den höchsten Grad menschlicher Grösse
und Glückseligkeit zu sehen gewohnt ist: Ruhm, Ehren, Reichthümer,
Macht.
Sie unternahmen, von der inneren Unruhe getrieben, Kriege, um
durch heftige Emotionen die düstere Melancholie abzuschütteln, die
auf ihrer Seele lastete, und um ein wenig ihren unbezähmbaren Ehr-
geiz zu befriedigen, das einzige Gefühl, aus dem ihnen irgend eine
moralische Freude erstehen konnte. Aber der Rausch der Ruhmsucht,
der Wahn der Triumphe haben nur kurze Dauer und lassen nachher
— wie alle heftigen Emotionen — einen Zustand von Entnervtheit
und Erschlaffung zurück, der schlimmer ist als der Zustand, der
den Emotionen vorausging. Daraus entsteht dann jener Drang, der so-
zusagen der Schlussstein der Psychologie aller grossen Eroberer ist,
der Drang, immer stärkere Erregungen zu empfinden: ein Bedürfniss,
das theils durch immer grössere Unternehmungen befriedigt wird, die
mit masslosen Tollheiten enden, wie beispielsweise der russische Feld-
zug Napoleons; oder durch künstliche Mittel, die, wie bei Alexander
dem Grossen, mit Alkoholismus; oder durch zügellose Ausschweifungen,
die, wie bei Constantin dem Grossen, mit Gehirnerweichung und Wahn-
sinn enden.
Wer in einem Museum die Bildnisse der römischen Kaiser auf-
merksam betrachtet und den Kopf Marc Aurel’s, des philosophischen
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 499, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0499.html)