Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 500
Das kriegerische Genie (Ferrero, Guglielmo, Prof.)
Text
Kaisers, mit jenem Septimius Severus’, des furchtbaren Abenteurers,
vergleicht (den man den Napoleon des Alterthums nennen könnte),
kann neben dem Bilde der heiteren inneren Friedlichkeit und Seelen-
ruhe jenes des inneren nagenden Zornes und Schmerzes sehen. Welche
Gemüthsruhe und behagliche Glückseligkeit erstrahlt in den Gesichts-
zügen des Philosophen, und welche heftige und schmerzliche Spannung
liegt in dem Gesichtsausdruck des Kriegers, der doch einer der
grössten Günstlinge des Sieges und des Glückes war! Auch Attila, die
Geissel Gottes, war ein furchtbarer Melancholiker, dessen Seele stets
müde Langweile oder fieberhafte Erregtheit athmete, der die Andern
peinigte, um sich selbst in den gewaltsamen Wollüsten der Zerstörung
zu betäuben und seine eigene Selbstpeinigung ein wenig zu vergessen.
Priskus, ein griechischer Schriftsteller des fünften Jahrhunderts, der
sein Gesandter war, beschreibt ihn uns in erstaunlicher Weise: Attila
war stets so finster und mürrisch, dass er ihn während vieler Wochen,
da er bei ihm weilte, bloss das eine Mal lächeln sah, als sich ihm
einer seiner Söhne näherte, von dem der Astrologe geweissagt hatte,
er werde den Untergang seines Hauses überleben und sein Geschlecht
und dessen Macht fortpflanzen; er war stets so schweigsam und in sich
versunken, dass er für nichts Sinn hatte, was sich um ihn zutrug,
nicht einmal für die lustigen Schauspiele, die vor ihm dargestellt
wurden und die das grosse Entzücken des Hofes bildeten; er war
stets so zornig, dass seine oftmals ganz grundlosen, heftigen Wuth-
ausbrüche den ganzen Hof in Schrecken setzten. Kurz, es ist das Bild
eines Mannes, der auf der schwindelnden Höhe einer Macht steht,
der aber da oben einsam lebt wie auf dem Gipfel eines Berges, und
dessen düsterer und heftiger Charakter noch mehr verbittert und ver-
schärft wird durch jene ewige Einsamkeit, der er sich nicht zu ent-
ziehen vermag.
Napoleon ist nichts Anderes als ein Attila, der französisch sprach
und um vierzehn Jahrhunderte später kam. Sein Charakter ähnelt dem
Attila’s merkwürdigerweise wie ein Zwillingsbruder dem andern; er ist
zusammengesetzt aus Schwermuth, aus chronischer Langweile, aus Ehr-
geiz und Gewaltsamkeit. Schon sein Gesicht zeigt in jenen Porträts, in
denen die ewige Courtisane der Mächtigen, die Kunst, ihm nicht ge-
schmeichelt hat, indem sie seine Züge in diejenigen eines griechischen
Epheben herabmilderte, eine bittere und unterdrückte Schwermuth und
Düsterkeit, einen Zustand fortdauernden Missvergnügens und nagenden
Grams, der übrigens von den zahllosen Personen, die sich ihm ge-
nähert haben, in tausend Anekdoten und Betrachtungen psychologischer
Art eingehend erörtert und bestätigt wurde. Aus allen diesen Berichten
und Ueberlieferungen lässt sich mit Leichtigkeit ersehen, dass Napoleons
Leben ein fortdauernder Ausfluss des Schmerzes war, hie und da
unterbrochen durch wahnwitzige Genugthuungen der Ruhmsucht, die
diese gierig nach Macht strebende Seele durch so viele Siege zu er-
reichen wusste. Der Rest seines Lebens aber war eine stete Tortur;
denn Napoleon war weder imstande, unthätig zu bleiben, noch mit
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 500, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0500.html)