Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 501

Das kriegerische Genie (Ferrero, Guglielmo, Prof.)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 501

Text

DAS KRIEGERISCHE GENIE. 501

Lust und Ruhe zu arbeiten. Die Unthätigkeit langweilte ihn bis zur
Verzweiflung, die Thätigkeit überreizte ihn bis zur Raserei. Es ist bei-
spielsweise bekannt, dass Napoleon bei allen Festlichkeiten des Hofes
eine derartige Leichenbittermiene zur Schau trug, dass bei seinem An-
blick selbst die Vergnügungssüchtigsten alle Lust verloren; er blieb
stumm, gähnte und zeigte in jeder seiner Geberden die tödtliche Lang-
weile, die ihn quälte; von Zeit zu Zeit machte er seinem Missvergnügen
durch irgend eine grausame Grobheit Luft, indem er irgend eine Dame
fragte, weshalb sie so schlecht gekleidet sei, eine andere, weshalb sie
ihre Jahre zu verbergen trachte, eine dritte, ob es wahr sei, dass sie
einen Geliebten habe. Andererseits fand ein Mann, der die Ruhe so
unwillig ertrug, in der Arbeit nicht Trost und nicht Freude, sondern
eine Verschärfung des Schmerzgefühles: seine wüthende Ungeduld war
schmerzlich erregt durch die vielen kleinen Schwierigkeiten, auf die er
stiess; die geringfügigsten kleinen Hindernisse irritirten ihn; er fand
Alles langsam, Alles schlecht gemacht, Alles überflüssig und dumm,
und deshalb misshandelte er seine treuesten Werkzeuge; er hätte gerne
Alles mit einem Schlag vollbracht, ohne Zaudern, und so vollzog er
seine Arbeiten, in seinem Cabinet sowohl als auf dem Schlachtfelde,
in einer fieberhaften, quälenden Hast, die ihm die Freude an Allem
benahm. Sicherlich war es diese fortdauernde gewaltsame Anspannung
aller Nerven, die seinen Geist so rasch erschöpfte und ihn in so frühem
Alter dahingerafft hat.

Diese Thatsache hat eine tiefe Bedeutung; sie ist ein specieller
Fall jenes grossen Gesetzes der menschlichen Natur, dem zufolge nur
jene Handlungen angenehm sind, die das Leben schaffen oder erhalten,
von der Ernährung und von der Wiedererzeugung bis zur Ausarbeitung
eines Kunstwerkes oder der Conception einer grossen philosophischen
Wahrheit. Es ist ein Gesetz der Natur, dass nur der Schaffende glück-
lich sein kann; der Zerstörer ist dem Schmerze geweiht. Es ist wohl
wahr: es hat Männer des Sieges gegeben, die einen heiteren und
friedlichen, ruhigen Charakter hatten; von diesen möchte ich fast sagen,
dass sie den heiteren Krieg führten, wie Julius Cäsar und Garibaldi;
aber es waren Männer, die Krieg geführt hatten, weil sie dazu durch
die Ereignisse gezwungen waren, ohne für den Krieg als solchen eine
Leidenschaft zu fühlen, ohne in der gewaltsamen Unterdrückung anderer
Menschen die Befriedigung eines Ehrgeizes zu erblicken, der das Er-
zeugniss eines grenzenlosen Egoismus ist. Julius Cäsar, geboren in einer
Zeit, in der man, um nicht unterdrückt zu werden, vom Schwerte
Gebrauch zu machen gezwungen war, verstand es, dank der wunder-
baren Gestaltungsfähigkeit seines Wesens, besser als alle Anderen, mit
diesem furchtbaren Spiel zu spielen; aber er unternahm eben Krieg
niemals aus blosser Freude am Krieg, sondern immer zu einem be-
stimmten Zweck; er gebrauchte stets das geringste Maass von Grausam-
keit, denn seine wahre Natur war nicht die eines Volksvernichters, sondern
die eines Gesellschaftsbildners, eines grossen praktischen Sociologen,
der im höchsten Grade den revolutionären Schöpfungsgeist besass und

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 13, S. 501, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-13_n0501.html)